Seelenriss: Thriller
Chefsessel. Die Füße auf dem Schreibtisch überkreuzt, die Hände hinter den Kopf gelegt, starrte er abwesend an die Decke, als sei er mit den Gedanken überall sonst außer hier in diesem Raum. Olga Romanov machte ihn mit einem Räuspern auf Lena und Belling aufmerksam, woraufhin Wallau die Füße vom Tisch nahm und im Sessel herumfuhr. Der Professor und die Sprechstundenhilfe tauschten einen Blick, den Lena nicht deuten konnte, dann verschwand Romanov wieder. Lena hörte, wie sie die Tür hinter sich schloss, doch das Klacken ihrer Absätze blieb aus.
»Ich habe Sie bereits erwartet«, sagte Professor Wallau, ein schlanker Mann älteren Semesters mit sonnengegerbter Haut und schneeweißen Haaren. Er trug eine beigefarbene Leinenhose und Lederschuhe, kombiniert mit einem schwarzen, enganliegenden T-Shirt, unter dem sich ein kleiner Wohlstandsbauch abzeichnete. Für sein Alter schien er noch gut in Form zu sein, lediglich seine dicken, kastenförmigen Brillengläser wollten nicht so recht dazu passen. Der Professor machte sich nicht die Mühe, aufzustehen und ihnen die Hand zu geben, sondern wies auf die dunkle Ledercouch neben einer Leopardenstatue aus Porzellan. Auf dem kleinen Beistelltisch daneben standen eine Packung Kleenex und ein Wecker, der während der Therapiesitzungen dezent darauf hinwies, wann die obligatorischen fünfundvierzig Minuten vorüber waren.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie nahe mir dieser entsetzliche Mord an meiner Patientin geht«, sagte Wallau ohne größere Vorrede, nachdem Lena und Belling sich gesetzt hatten. »Ann-Kathrin Weiß hatte ihr ganzes Leben noch vor sich.« Er senkte den Blick auf die Patientenakte, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte, und sah wieder auf. »Darf ich fragen, wie sie ermordet wurde?«
Das übernahm Belling. Er erzählte ihm von den Verätzungen und dem Sturz aus dem Fenster. Als er seinen Vortrag beendet hatte, war dem Professor jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Lena folgte ihm mit dem Blick, während er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor dem Fenster auf und ab ging und sich Bellings Worte durch den Kopf gehen ließ. Sie war sich nicht sicher, was dem Psychiater mehr auf den Magen schlug: dass eine junge Frau brutal ermordet worden war oder aber die Tatsache, dass es sich dabei ausgerechnet um seine Patientin handelte.
»Ist das die Patientenakte von Ann-Kathrin Weiß?«, erkundigte sich Lena mit einem Blick auf seinen Schreibtisch.
Der Weißhaarige nickte.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick in die Akte werfe?«
Wallau senkte den Blick auf die Akte. »Tut mir leid, aber ich fürchte, das wird nicht möglich sein.«
Lena blickte ihn eine Sekunde lang sprachlos an und dachte gar nicht daran, klein beizugeben. »Professor Wallau, Ihre ärztliche Schweigepflicht in allen Ehren – aber darf ich Sie daran erinnern, dass wir in einem Mordfall ermitteln?«, fragte sie energisch.
Wallau zögerte einen Moment, ehe er notgedrungen einlenkte. »Ich sage Olga, sie soll Ihnen umgehend eine Kopie zufaxen.«
»Danke.«
»Hat Ann-Kathrin Weiß während einer Therapiesitzung einmal einen gewissen Pater Sonnenberg erwähnt?«, fragte Belling unvermittelt.
Der Professor zog die Stirn in Falten. »Sonnenberg? Bedaure, der Name ist nie gefallen. Weshalb fragen Sie?«
Belling schob mürrisch den Unterkiefer zur Seite. »War nur so eine Frage.«
Lena musterte den Psychiater mit zusammengekniffenen Augen und kam wieder zum Thema zurück: »Weshalb hat Ann-Kathrin Weiß Sie aufgesucht?«
»Sie hat mich wegen ihrer anhaltenden Depressionen konsultiert«, erklärte Wallau. »Obwohl ich während der letzten beiden Sitzungen das Gefühl hatte, dass sie irgendetwas akut belastet, hat sie im Lauf der vergangenen Monate beachtliche Fortschritte gemacht. Im Großen und Ganzen war sie auf dem richtigen Weg.«
Lenas und Bellings Blicke trafen sich. »Haben Sie eine Ahnung, was das gewesen sein könnte, das sie belastet hat?«, hakte Lena nach.
Der Professor blieb am Fenster stehen. Er blickte nachdenklich zur Straße hinunter und schüttelte den Kopf.
»Hat Ann-Kathrin Weiß während der Sitzungen jemals erwähnt, von jemandem unter Druck gesetzt oder gar erpresst worden zu sein?«, fragte Lena weiter, erntete jedoch lediglich ein erneutes Kopfschütteln.
»Sie wirkte einfach irgendwie … wie soll ich sagen? … verändert«, sagte Wallau.
»Verändert?«, fragte Belling.
Der Professor wandte sich mit angespannter Miene nach
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