Seelenriss: Thriller
ihnen um. Er nahm die Brille ab und rieb sich die geröteten Augen. »Ann-Kathrin Weiß war verschlossener als sonst, und es wurde zunehmend schwerer für mich, zu ihr durchzudringen. Sie hat es auf ihre Lebensumstände geschoben und immer wieder betont, bei ihr ginge derzeit alles drunter und drüber – das Kind, die Arbeit am Theater … Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass da noch etwas anderes war. Etwas, über das sie partout nicht sprechen wollte.«
Hellhörig geworden, beugte sich Lena vor. »Ann-Kathrin Weiß hat ein Kind hinterlassen?«, fragte sie mit einem Anflug von Entsetzen. Nicht etwa nur, da sie aus eigener Erfahrung wusste, wie schrecklich es war, ohne Eltern aufzuwachsen, und das keinem Kind der Welt wünschte, sondern vor allem, weil ihr niemand auch nur ein Sterbenswort von diesem Kind gesagt hatte. Sie warf Belling einen verärgerten Blick zu, und er hob schuldbewusst die Schultern.
»Wissen Sie, wer der Kindsvater ist?«, fragte Lena, an den Professor gewandt.
Wallau schüttelte verneinend den Kopf. »Sie hat den Jungen aus Rumänien adoptiert.«
»Hat Ann-Kathrin Weiß während der Therapiesitzungen vielleicht jemanden erwähnt, der neu in ihr Leben getreten ist? Oder jemanden, mit dem sie sich in letzter Zeit häufiger getroffen hat?«
Wieder ein Kopfschütteln seitens des Professors.
»Kommen wir noch einmal auf das Kind zu sprechen«, bat Lena. »Wann hat Weiß den Jungen adoptiert?«
»Das dürfte inzwischen rund zwei Jahre her sein«, präzisierte Wallau. »Damals war die Welt von Ann-Kathrin Weiß noch in Ordnung. Sie hat in einer intakten Beziehung gelebt, doch nachdem dieser Kerl sie nur wenige Monate nach der Adoption des Kindes verlassen hatte, fehlte es ihr an Halt und Stabilität, und es ging zunehmend mit ihr bergab.« Er legte eine kurze Kunstpause ein, um den nachfolgenden Worten eine höhere Bedeutung beizumessen. »Der arme Junge ist erst sechs Jahre alt und bereits zum zweiten Mal Waise.«
»Und wo ist er jetzt?«, wollte Lena wissen.
Der Professor setzte seine Brille wieder auf. »Bedaure, das entzieht sich ebenfalls meiner Kenntnis. Allerdings habe ich dem zuständigen Jugendamt meine Empfehlung für einen Kinderpsychologen ausgesprochen. Ein junger Kollege, den ich überaus schätze.«
Lena hatte einen Kugelschreiber und ihr Notizbuch gezückt und notierte sich, Lucy darum zu bitten, sich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen. »Und wie heißt dieser Psychologe?«, wollte sie wissen.
Wallau nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und zog wortlos die Schublade auf. So wie er darin wühlte, erweckte er bei Lena den Eindruck, dass er wohl trotz Brille nur die Sehkraft eines Maulwurfs besaß.
»Hier«, sagte er, stand auf und reichte Lena eine Visitenkarte.
Lena bedankte sich und stutzte plötzlich, als sie einen Blick auf die Karte warf. »Dr. Matthias Reuter«, las sie vor und spürte, wie ihr auf einmal ganz mulmig zumute wurde.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Wallau und blinzelte irritiert.
Lena spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Einen Moment meinte sie, sich verlesen zu haben, doch ein erneuter Blick auf die Karte überzeugte sie vom Gegenteil. Das war doch wohl ein schlechter Scherz?
»Nein, nein, schon gut«, sagte sie schnell und steckte die Karte ein.
Beim Verlassen des Sprechzimmers wusste Lena nicht, ob ihr zum Lachen oder zum Weinen zumute war. Auf der Türschwelle drehte sie sich noch einmal nach Wallau um. Der Psychiater war gerade dabei, sich Augentropfen zu verabreichen, als Lena mit einem verlegenen Lächeln fragte: »Sie wissen nicht zufällig, wie lange Dr. Reuter schon in Berlin praktiziert?« Sie war bemüht, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu verleihen.
Der Professor nahm die Hand mit den Tropfen herunter und schüttelte den Kopf. »Ist das denn so wichtig?«
Lena schob das Kinn vor. »Ähm … ach, schon gut.«
»Also, woher kennen Sie diesen Doktor Reuter?«, fragte Belling, als sie zurück in den Aufzug stiegen.
»Ist was Persönliches«, erwiderte Lena knapp, in der Hoffnung, er möge es dabei belassen. Doch sein schelmisches Grinsen verriet das Gegenteil. Lena versuchte, ernst zu bleiben, musste aber ebenfalls grinsen. Ihre Wangen glühten. »Na schön, Dr. Matthias Reuter ist mein Exfreund. Zufrieden?«
Bellings Miene hellte sich auf. »Tatsächlich?«, fragte er verblüfft.
Lena verschlug es beinahe die Sprache. »Was denn? Dachten Sie etwa, ich gehe nur mit Serienkillern ins Bett?«
Belling
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