Seelenriss: Thriller
zu der Tür vor ihm. Seine Glieder schmerzten bei jedem Schritt. Doch er wusste, die Tür war seine letzte Chance, diesen gottverdammten Keller noch einmal lebend zu verlassen, ehe der Mann, den er bis vor kurzem noch für einen netten Nachbarn gehalten hatte, vollenden würde, womit er begonnen hatte.
12
Freitag, 27. Mai. Berlin-Schöneberg …
Gegen halb fünf am Nachmittag erreichten Lena und Belling die Privatpraxis eines gewissen Professor Wallau. Wie sich herausgestellt hatte, war die ermordete Maskenbildnerin Ann-Kathrin Weiß in psychiatrischer Behandlung bei dem Professor gewesen. In der Hoffnung, sie habe während der Therapiesitzungen irgendetwas erwähnt, das für die Ermittlungen relevant war, hatte Lena beschlossen, dem Psychiater einen Besuch abzustatten.
Die Praxis lag im fünften Stock eines jener prächtigen Berliner Altbauten, die im Krieg verschont geblieben waren. Der Türsummer ertönte, und sie betraten das Treppenhaus, das mit meterhohen Marmorsäulen und Stuckverzierungen ausgestattet war. Während sie auf den Aufzug warteten, nahm Lena die Sonnenbrille ab und rieb sich die rot geränderten Augen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt eine Nacht durchgeschlafen hatte. Die Ermittlungen zu dem Fall hatten ihr keine Ruhe gelassen, und auch in der vergangenen Nacht hatte sie stundenlang wach gelegen, während ihre Gedanken unentwegt um die immer gleichen Fragen kreisten: Warum hat der Killer diese beiden Frauen ausgewählt? Warum hat er sie auf diese Art und Weise getötet? Und warum hatte er ausgerechnet ihr ebenfalls diese ominöse Morddrohung gesandt?
Als ihr nach einem endlos langen Kampf gegen die Schlaflosigkeit dann doch vor Erschöpfung die Augen zufielen, hatte ihr schließlich jener stetig wiederkehrende Alptraum den Schlaf geraubt, der sie seit Kindertagen verfolgte: der Frontalzusammenstoß auf der Autobahn. Das brennende Autowrack. Ihre reglosen Eltern. Die entsetzlichen Schreie ihrer Zwillingsschwester Tamara, die neben ihr auf der Rückbank eingequetscht war. Ihre Mutter, die bewusstlos neben ihrem Vater lag und deren Haar bereits Feuer gefangen hatte. In Todesangst hatte Lena ihre blutüberströmte Hand ergriffen und sie nicht wieder loslassen wollen. Selbst dann nicht, als die Feuerwehrmänner sie und Tamara in einer dramatischen Rettungsaktion aus der Flammenhölle zerrten, ehe der Wagen explodierte.
Oftmals war das der Moment, in dem Lena schweißgebadet erwachte. Der Anblick des brennenden Wagens hatte sich ihr ebenso unwiderruflich ins Gedächtnis eingebrannt wie der von dem Blut an ihren Kinderhänden. Im Laufe der Jahre hatte sich dieses Trauma zu einer psychischen Störung manifestiert. Sie äußerte sich in einem nahezu krankhaften Waschzwang, der sie insbesondere in Stresssituationen quälte. Auch in der vergangenen Nacht war Lena im Bett hochgeschreckt, hatte auf ihre zitternden Hände gestarrt und sich eingebildet, das Blut noch immer sehen zu können. Wie sooft hatte sie dem Impuls nicht widerstehen können, aus dem Bett zu springen und ins Badezimmer zu eilen, um ihre Hände minutenlang unter brühend heißem Wasser zu waschen, nein, regelrecht abzuschrubben, bis ihre Finger glühend rot waren und der brennende Schmerz die schrecklichen Erinnerungen kurzzeitig verdrängte. Anschließend war sie in aller Herrgottsfrühe joggen gegangen, hatte ihr Schießtraining absolviert und danach auf dem Revier an ihrem Fallanalyse-Gutachten gearbeitet.
Im Laufe des Vormittags hatte Volker Drescher eine Konferenz angesetzt, um im Team über das weitere Vorgehen zu beraten. Für Lena stand außer Frage, dass die Ermittlungen wichtiger waren als ihre eigenen Befindlichkeiten. Davon abgesehen, hatte sie sich nun schon so lange mit diesen Kopfschmerzen herumgeplagt, dass es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht mehr ankam. Drescher hatte in der Konferenz mächtig Druck gemacht und immerzu betont, schleunigst Ergebnisse zu brauchen, die er den Aasgeiern von der Presse zum Fraß vorwerfen konnte. Lena wusste jedoch ebenso gut wie die Kollegen, dass Drescher nicht in erster Linie um den Ruf der Mordkommission besorgt war, sondern vielmehr um die schlechte Publicity, die sich negativ auf die Verkaufszahlen seines neuen Buchs Strategien der Verbrechensbekämpfung auswirken konnte.
Im Anschluss an die Konferenz war es Lena in einem nervenaufreibenden Gespräch unter vier Augen schließlich gelungen, den Dezernatsleiter davon zu überzeugen, ihr noch einen
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