Seelenriss: Thriller
weiteren Tag Aufschub zu gewähren, ehe er seine Drohung wahr machen und sie von dem Fall abziehen würde. Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen. »Vierundzwanzig Stunden und keine Minute länger«, hörte Lena ihren Vorgesetzten im Geiste immer noch sagen. Im Gegenzug hatte sie sich einverstanden erklären müssen, ihn über jeden ihrer Schritte genauestens zu informieren und keinerlei Risiko durch Alleingänge einzugehen. Das helle Ping des Aufzugs riss Lena aus ihren Gedanken und brachte sie ins Hier und Jetzt zurück.
Als sie nach Belling den Aufzug zur Praxis betrat, hatte sie das Gefühl, von der schwülen Luft, die sich darin staute, erdrückt zu werden. Ihre Jeans und ihr ärmelloses Top klebten ihr auf der Haut. Und auch Wulf Belling, der in Kordjackett, Hemd, Jeans und Freizeitschuhen neben ihr im Aufzug stand, trieb es buchstäblich den Schweiß auf die Stirn. Der Aufzug setzte sich ratternd in Gang. Lena richtete ihren Blick auf die digitale Stockwerksanzeige, dennoch registrierte sie aus dem Augenwinkel, wie ihr Partner ungeduldig auf die Uhr sah. »Ich muss Marietta nachher vom Busbahnhof abholen«, erklärte Belling, als er ihren Blick bemerkte.
»Ich dachte, Ihre Tochter sei auf Abschlussfahrt in Südfrankreich.« Lena betonte ihre Aussage wie eine Frage.
Er stieß einen langen Seufzer aus. »Ist vorzeitig heimgeschickt worden.«
Lena zog die Stirn in Falten und fächelte sich Luft zu. Sie wusste, dass Belling ein schwieriges Verhältnis zu seiner Tochter hatte, da diese ihm noch immer die Schuld an der Scheidung von seiner Exfrau gab. Doch seit ihm vor einigen Monaten das Sorgerecht für die Siebzehnjährige zugesprochen worden war, geriet sie zunehmend auf die schiefe Bahn. Kam und ging, wann sie wollte, und war bereits mehrfach wegen des Besitzes illegaler Drogen aufgegriffen worden.
»Immer noch so schlimm?«, erkundigte sich Lena.
Belling machte ein mürrisches Gesicht. »Schlimmer …«, grollte er und rieb sich den Nacken. »Wenn Sie mich fragen, liegt das einzig und allein an diesem Kerl, mit dem Marietta da neuerdings rumhängt.«
»Ihr neuer Freund?«, fragte Lena nach, den Blick jetzt wieder ungeduldig auf die Stockwerksanzeige gerichtet. Offenbar befanden sie sich im langsamsten Aufzug der Welt.
Belling nickte. »Wenn man das so nennen will. Ich kann nur beten, dass daraus nichts Ernstes wird.« Er wandte den Kopf zu Lena um und schnaubte. »Dieser Mikey hat nicht mal einen Schulabschluss – und dann hat er den lieben langen Tag nichts Besseres im Sinn, als an seinem dämlichen Motorrad herumzuschrauben. Außerdem hängt er ständig bei uns rum. Und dann säuft er auch noch wie ein Loch«, zählte er an seinen fleischigen Fingern auf. »Und was soll das überhaupt für ein Name sein? Mikey , wie sich das schon anhört«, setzte er murrend fort, da meldete sein Handy eine SMS .
Lena sah, wie er es aus der Innentasche seines Jacketts nahm, einen kurzen Blick darauf warf und es rasch wieder wegpackte.
»War das Ihre Tochter?«, erkundigte sie sich.
Verstohlen wandte er den Blick ab. »Das … ähm, nein.« Lena kannte Wulf Belling inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er ihr etwas verheimlichte. Sie konnte die plötzliche Anspannung, die diese SMS bei ihm hervorgerufen hatte, förmlich mit den Händen greifen und war einmal mehr verwundert über sein geheimnistuerisches Verhalten. Sie wollte ihn zur Rede stellen und sagen: »Raus mit der Sprache – von wem stammen all diese ominösen Anrufe und SMS ?« Doch ehe sie dazu kam, öffnete sich die Aufzugstür und eine schmallippige blonde Sprechstundenhilfe im schwarzen Hosenanzug nahm sie mit einem steifen Lächeln in Empfang.
Obwohl Lucy ihr Kommen angekündigt hatte, wirkte die Frau, die sich ihnen als Olga Romanov vorstellte, auffallend nervös. Ihre Absätze klackten über das Fischgrätparkett, als Lena und Belling ihr durch das klimatisierte Vorzimmer folgten. Romanov hielt ihnen die Tür zum Sprechzimmer auf. Belling ließ Lena den Vortritt. Nicht übel , dachte sie beim Betreten des eindrucksvollen Raums, der gut und gerne viermal so groß war wie ihr Büro auf dem Revier. Die großen Kassettenfenster gingen zur Straße hinaus und ließen das mit hellen Designermöbeln ausgestattete Sprechzimmer noch edler erscheinen. An den Wänden hingen Auszeichnungen, die dem Professor im Laufe der Jahre für seine herausragende Tätigkeit verliehen worden waren.
Wallau selber saß mit dem Rücken zu ihnen in einem breiten
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