Seelensplitter: Thriller (German Edition)
sie sich Lesben so wie Astrid vorgestellt hatte. Doch ihr offensives Auftreten sei nichts anderes als ihr persönlicher Schutzwall, ihre Festung. Hatte Astrid jedenfalls in der Therapie erklärt.
»Du bist doch noch bei der Polizei?«, fragt Astrid und wirft sich in Linas Lieblingssessel.
»Wie man’s nimmt.«
Astrid ignoriert die Antwort und sieht sich neugierig um.
» So haust du also«, sagt sie.
Neugierig begutachtet Astrid das Regal, in dem ungeordnet Bücher stehen, ein paar alte Sammeltassen, die Lina auf dem Flohmarkt erstanden hat, und einige Fingerpuppen. Eine Zeit lang hat Lina sich kleine Dramen ausgedacht und sie sich mit den Fingerpuppen selbst vorgespielt. Es war ein Tipp aus einem drittklassigen Ratgeber und nannte sich »Spielerische Visualisierung«. Vielleicht sollte sie es mal wieder versuchen. Einen Daumenpolizisten hat sie zwar, doch der ist unbewaffnet, und auch eine Frauenleiche fehlt in ihrer Sammlung.
»Also, was ist? Bist du noch bei der Polizei oder nicht?«
»Sicher«, sagt Lina. Sie hat keine Lust, Astrid vom versehentlichen Abfeuern ihrer Waffe zu erzählen. Das geht sie nichts an. Bei Astrid muss man aufpassen. Das weiß Lina, seit sie ihr zum ersten Mal im Wartezimmer von Severin Carlheim begegnet ist.
Astrid ist schlau. Tut so, als würde sie bestimmte Dinge gar nicht wahrnehmen, nur um sie dann im passenden Augenblick vor allen anderen genüsslich auszubreiten. Erspürt in Windeseile die Schwachstelle ihres Gegenübers, um im richtigen Moment mit einem ihrer langen Finger hineinzubohren.
In einem Zug leert Astrid das Glas Portwein, das Lina ihr eingeschenkt hat, und meint anerkennend: »Guter Stoff.«
»Was willst du?«, fragt Lina, die sich kein Glas mitgebracht hat. Astrid soll sich nicht einbilden, dass sie den Abend gemeinsam verbringen, sich betrinken und in Erinnerungen schwelgen.
»Du hast von Carolin gehört? Ich meine, dass sie … dass sie sich …?«, fragt Astrid.
Plötzlich rollt ihr eine Träne über die Wange, und Lina weiß nicht, ob es echt ist oder gespielt. So wie damals. Kippt Astrids Stimmung wirklich so unvermittelt, oder setzt sie die Tränen gezielt ein, um dadurch ihr Gegenüber zu entwaffnen? Auch bei Frauen verfehlen Tränen ihre Wirkung nicht.
»Ich hab Carolin gefunden«, sagt Lina knapp und spürt, dass Astrid das längst weiß. Warum sonst sollte sie hier auftauchen?
Astrid richtet sich abrupt im Sessel auf und stößt dabei das Glas um.
»Das ist nicht dein Ernst!«, sagt sie.
»Jetzt spiel mir doch nichts vor. Warum bist du zu mir gekommen?«
»Warum so feindselig?«, erwidert Astrid. »Davon hatte ich keine Ahnung. Hat sie … also hat sie dich vorher angerufen? Ich meine, bevor sie sich das … das Ding reingeschoben hat?«
Lina sieht sie schweigend an.
»All das Blut da im Schlafzimmer.«
»Woher weißt du davon?«
Astrid antwortet nicht.
»Was willst du?«, sagt Lina, die jetzt nicht zu viel preisgeben will. Nicht bevor Astrid damit herausgerückt ist, warum sie so urplötzlich bei ihr auftaucht.
»Du hattest nach der Therapie weiter mit Carolin zu tun? Ich meine, ihr habt euch getroffen?«, fragt Lina.
»Sporadisch. Zum Wein. Du weißt, wie das ist. Und einmal sind wir gemeinsam ins Kino gegangen. Hast du noch was von dem Sherry?«
»Weißer Portwein«, erwidert Lina und schüttelt den Kopf. Die Flasche Riesling wird sie auf keinen Fall öffnen. Sie braucht jetzt Ruhe und keine aufgewärmten Geschichten.
»Das muss schrecklich gewesen sein«, sagt Astrid und sieht Lina mitleidig an. »All das Blut.«
»Also, was willst du?«
»Sie ist … sie war immerhin eine gemeinsame Freundin. Mensch Lina, wir haben mit ihr zusammengesessen, gelacht … wir hatten doch Spaß miteinander.«
»Wir haben uns zwei Stunden in der Woche gesehen.«
»Und was ist mit dem Ausflug nach Hooge? Außerdem hab ich sie häufiger gesehen.«
»Stimmt, ihr wart anscheinend gut befreundet«, sagt Lina. »Dann weißt du sicher auch, warum sie in dieser Wohnung gelebt hat? Mit einem fremden Namensschild an der Tür?«
»Ach das«, sagt Astrid und lacht erleichtert. »Das Übliche. Sie ist bei ihrem Typen ausgezogen und wollte nicht erreichbar sein. So einfach.«
»Und was ist das für eine Wohnung?«
»Soweit ich weiß, gehört sie einem ihrer Freunde, einem Kostja irgendwas, der für ein halbes Jahr in irgendeiner Buschkommune in Asien lebt. Selbstfindung und der ganze Mist. Du weißt schon.«
»Du bist tatsächlich gut informiert«, sagt
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