Seelensplitter: Thriller (German Edition)
manchmal wehtat. Treueschwüre, Zukunftspläne. In eine andere Stadt versetzen lassen. Er zeigte ihr das Bild einer verlassenen Gärtnerei mit leer stehenden Treibhäusern in Schleswig-Holstein, in die er mit ihr ziehen wollte. Dann kamen wieder die Schulprobleme seiner Kinder, die Krankheit seiner Frau. Seiner. Seiner.
Irgendwann in dieser Zeit stiegen in ihr die Bilder aus einer unbekannten Kindheit auf. Etwas Rotes floss unter einer Tür hindurch, breitete sich in einem Laufgitter aus. Kroch die Wände hoch, die aus Haut bestanden, und die kleinen Härchen dieser Haut stellten sich auf.
Ihr Handy läutet. Eine Frauenstimme. »Ist da Lina Andersen?«
»Wer will das wissen?«
»Ich meine die Polizistin Lina Andersen?«
Lina klappt den Deckel des Kartons zu und sagt nichts.
»Lina, bist du das? Hier ist Isabel. Aus der Gruppe.«
Lina nimmt das Handy herunter und ist kurz davor, das Gespräch wegzudrücken. Lasst mich in Ruhe, denkt sie. Was habe ich damit zu tun?
Doch dann führt sie es doch wieder ans Ohr und sagt: »Ja, ich habe Carolin gefunden.«
»Das ist schrecklich. Sag mal, hast du zufällig einen Kollegen bei der Polizei, der Sven Emmert heißt?«
»Und wenn?«
»Lina, können wir miteinander reden? Irgendetwas muss damals passiert sein.«
Lina hört ein Zittern in ihrer Stimme.
»Hörst du, Lina?«
»Ja.«
»Es muss etwas passiert sein. Während der Therapie. Es hat alles mit dieser verfluchten Therapie zu tun.«
»In einer halben Stunde?«
Lina steigt in ihren Toyota IQ und gibt im Navi die Adresse ein, die Isabel ihr genannt hat. Sie muss den Druck loswerden, wenn nicht ihr ganzes Leben ins Wanken geraten soll.
Was wollte Sven von Isabel? Sie ist sicher, dass sie selber seinen Namen während der Gruppensitzungen nie erwähnt hat. Kann in der Therapie etwas zur Sprache gekommen sein, das Carolin getötet hat?
Sie biegt von der Hauptstraße in eine Seitenstraße ab und fährt die Reihe der Gründerzeitvillen ab. Die Villa, in der Isabel mit ihrem Verlobten wohnt, liegt an einem kleinen Weiher. Alte Bäume, ein zu einem Café umgebautes ehemaliges Toilettenhäuschen, davor ein See, auf dem Seerosen schwimmen, und ein Steg, auf dem zwei junge Leute sitzen. Möglicherweise aus dem Studentenwohnheim nebenan. Sie halten beide einen Tablet-Computer in der Hand, starren auf ihre Bildschirme und reden dabei, ohne sich anzusehen.
Die Villa, in der Isabel wohnt, muss sich ein vermögender Kaufmann gebaut haben, als dieses Gebiet noch zum grünen Stadtrand gehörte. Gründerzeitverzierungen an den Balkonen, die die Baumeister um 1900 von den antiken römischen Häusern abgekupfert hatten. Eine Kiesauffahrt, die mit Betonvasen und Büschen begrenzt ist, führt zum Haus. Die Rasenfläche zum Weiher hin ist penibel gemäht, kein Laub, vereinzelte Obstbäume, Büsche. An der linken Hausmauer reckt sich eine knorrige Eiche in die Höhe und breitet ihr Geäst über das Dach der dreistöckigen Villa aus. Eine Steintreppe führt zu einer breiten Glasfront, in die eine Haustür eingelassen ist.
Gerade als Lina die Treppe hochgehen will, öffnet Isabel die Tür. Cremefarbenes Kleid, hochgesteckte Frisur, schwarze Halbschuhe.
Wo ist die Perlenkette?, denkt Lina.
»Ich weiß, hier sieht es ein bisschen spießig aus«, sagt Isabel. Sie zeigt vage auf den perfekt gemähten Rasen und die Kiesauffahrt. »Danke, dass du gekommen bist.«
»Sicher«, sagt Lina.
»Weißt du, wir wissen einfach nicht mehr weiter.«
»Wir?«, fragte Lina, bekommt aber keine Antwort.
Hinter der Tür öffnet sich ein ausladender Flur, aus dem eine kleine Freitreppe in den ersten Stock führt. Isabel führt sie um die Treppe herum zum hinteren Teil des Hauses. Sie öffnet eine Tür, und Lina wird mit einem sanften Händedruck in den Wintergarten geschoben. Aufwändig restaurierte Gusseisenkonstruktion mit vielen eingelassenen kleinen Scheiben, an denen sich Grünpflanzen der Sonne entgegen in die Höhe ranken.
»Da wären wir wieder zusammen«, sagt Isabel mit einem angestrengten Lächeln.
In weißen Holzsesseln mit quietschgelben Kissen sitzen Christina, Pia und Stefanie aus der Therapiegruppe. Vor ihnen stehen leere und halbvolle Kaffee- und Teetassen. Stefanie wärmt sich an einer Teetasse die Hände. Im Aschenbecher türmen sich die Kippen, was darauf hindeutet, dass sie hier schon länger zusammenhocken.
»Möchtest du Kaffee oder Tee? Oder vielleicht ein Wasser?«
Lina verneint und fragt: »Wo ist Astrid? Und wo ist Paul?
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