Seelensplitter: Thriller (German Edition)
wirklich sehr leid. Sie gibt Lina den Ausweis zurück.
Lina steht auf. Im selben Moment schnellt die Frau aus ihrem Bürostuhl hoch und reicht ihr über den Schreibtisch hinweg zum Abschied die Hand. Sie sieht Lina plötzlich merkwürdig eindringlich an. Lina schlägt etwas irritiert ein, und dann spürt sie ein Stück Papier in ihrer Hand. Deshalb also dieser Blick.
Lina umklammert den Zettel mit der Faust und nimmt den Paternoster nach unten. Vor lauter Anspannung verpasst sie den Ausstieg und landet in dem stärker rumpelnden Aufzug im Keller.
»Die Weiterfahrt ist gefahrlos« steht zwischen krakeligen Graffiti auf einem Schild.
Plötzlich fürchtet Lina, dass ihr Handschweiß die Nachricht der Frau verwischen könnte. Sie stopft den Zettel ungelesen in ihre Jackentasche und nimmt ihn erst wieder heraus, als sie draußen ist und auf einer Bank vor dem Hochhaus sitzt.
»Irene Heise«, liest Lina. Nur dieser Name, sonst nichts.
Sie hatte ihre leibliche Mutter damals aufgesucht und war von ihr weggeschickt worden, zurück zu der Pflegefamilie. Danach wurde nie wieder über den Vorfall gesprochen, und sie hatte den Namen der Frau aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Ist es derselbe Name gewesen? Ob sie noch lebt?
Wieder versucht Lina sich zu erinnern – an einen Ort, an Gesichter, Ereignisse. An Bilder. Was ist mit dem immer wiederkehrenden Traum, in dem Blut unter der Tür hervorquillt? In seltenen Momenten ist ihr, als tauche aus der unergründlichen Tiefe ihrer Erinnerung etwas auf. Dann möchte sie hingreifen, doch jedes Mal ist es zu spät. Was immer da Gestalt annehmen könnte, verschwindet wieder, und sie fasst ins Leere.
Sie wird sich auf die Suche nach Irene Heise machen. Sie muss sie finden. Irgendetwas sagt ihr, dass Irene Heise ein Geheimnis hütet, das mit den Morden an den beiden Frauen zu tun hat. Ein Geheimnis, dem Lina auf die Spur kommen muss, um nach so vielen Jahren endlich Licht ins Dunkel ihrer eigenen Vergangenheit zu bringen.
16
N ach Ralfs Tod wurde Lina von ihren Pflegeeltern kaum noch beachtet. Lina kam es so vor, als wäre sie Luft für sie. Doch Lina war das nur recht.
Sie tat, was von ihr erwartet wurde. Sie ging in die Schule. Das Lernen fiel ihr leicht, und sie hatte gute Noten. Niemanden interessierte das. Sie fiel niemandem auf. Es war genau das, was sie wollte, und sie setzte alles dran, dass es so blieb. Sie fehlte fast nie. Sie schrieb absichtlich Fehler in ihre Arbeiten, damit sie auf keinen Fall zur Klassenbesten wurde. Wenn man sie fragte, ob sie gern in die Schule ging, log sie und antwortete »geht so«. In Wirklichkeit liebte sie die Ausflüge in fremde Sprachen. Sie liebte die Welt der Zahlen. Wenn sie sich langweilte, malte sie sich das Leben während der Eiszeit oder in mittelalterlichen Königshäusern aus. Sie verbrachte Stunden in der Bücherei und las nach, was sie im Unterricht gelernt hatte.
Ihre Pflegeeltern trauerten um Ralf. Selten nahmen sie Lina in den Arm. Meistens ließen sie sie in Ruhe. Sie machte ihnen keine Probleme.
Es gab nichts, wofür Lina geliebt werden wollte, denn Liebe war anstrengend. Liebe weckte Hoffnungen und Erwartungen. Liebe kostete Zeit. Liebe war ein Gefühl, von dem man immer mehr brauchte, wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hatte.
Wenn Lina spürte, dass es ihren Pflegeeltern nicht gut ging, kaufte sie Blumen, ging zum Friedhof und legte sie auf Ralfs Grab. Für den Fall, dass jemand sie dort beobachtete, faltete sie am Grab die Hände und tat so, als würde sie beten: »Lieber Ralf, du wirst das sicher verstehen«, betete sie. »Tut mir ja wirklich leid, dass du in dieser Grube liegst und von Würmern zerfressen wirst! Aber das ist nun mal Schicksal, verstehst du, lieber Ralf? Schicksal!« Sie fragte sich, wie lange die Würmer brauchten, sich durch den Sarg bis zum Kadaver hindurchzufressen. Dann zupfte sie die Blumen zurecht, klopfte sich den Dreck vom Kleid und ging wieder nach Hause. Diese Friedhofsbesuche erfüllten sie jedes Mal mit einem Gefühl des Triumphes, sie hatte ihren Feind besiegt, doch eigentlich war es das Schicksal, das ihn umgebracht hatte.
Aber es gab auch düstere Momente, in denen Lina sich davor fürchtete, in die Hölle zu kommen und Ralf dort wiederzusehen. Zwar hatte das Schicksal ihn umgebracht, doch sie war die Urheberin. Sie war schuld an seinem Tod.
Manchmal erschien Ralf ihr im Traum. Er stand dann vor ihrem Bett, sein Kopf völlig verkohlt, und verlangte von ihr, Platz zu machen,
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