Seelensplitter: Thriller (German Edition)
habe noch so viel zu lernen. Es klopft zwei Mal an die Wand, und ich ziehe ein Buch unter dem Bett hervor. »Es muss immer alles bereitliegen«, sagt der Weiße Drache.
Da sitzen sie, die Indianer. Um das Lagerfeuer. Sie erzählen sich Geschichten, in denen vielleicht auch der Weiße Drache und ich vorkommen. Sie erzählen sich von unseren Abenteuern. Vielleicht wissen sie schon, was wir erst noch erleben müssen. Ist es nicht schön, dass sie mit den Gedanken bei uns sind?
»Die Menschen in den Büchern wissen mehr über uns, als wir ahnen«, sagt der Weiße Drache. »Unser Geheimnis ist bei ihnen gut aufgehoben.«
17
L ina sieht hinüber zu Che Ling, der im Coffeeshop einen Fensterplatz ergattert hat. Er sitzt aufrecht da und beobachtet den gläsernen Pavillon auf der Straße, in dem Bratwürste und Pommes Frites verkauft werden. Punkt acht Uhr stürmt eine Gruppe Prostituierter auf die Stammplätze gegenüber der Davidswache. Schichtbeginn auf der Reeperbahn.
Lina bestellt sich am Tresen einen Espresso und balanciert die Tasse an den Tisch von Che Ling.
»Ganz ehrlich«, sagt sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass du etwas rausbekommen würdest.«
Bedächtig wendet Che Ling sich Lina zu. Er hat sich einen schmalen Oberlippenbart stehen lassen.
»Eine bayrische Reisegruppe in pinkfarbenen Trachten würde weniger auffallen als deine Freundinnen«, sagt er spöttisch.
»Das heißt, sie haben sich hier auf dem Kiez amüsiert?«
»Ob es amüsant war, weiß ich nicht. Aber sie haben’s krachen lassen.«
»Und was heißt das?«
»Das muss dir ein anderer erzählen.«
»Aber mir würde es reichen, wenn du …«
»Du musst mich verstehen, Lina. Wenn ich dich hier nicht als meine Auftraggeberin präsentiere, bin ich für die ein Polizeispitzel.«
»Du stellst dich ihnen als Privatdetektiv vor und präsentierst hier mal eben deine Auftraggeberin?«
»Was ich hier mache, ist ein Gefallen, kein Selbstmordkommando. Wenn die glauben, ich schnüffle für die Bullen herum …«
»Schon gut. Wo müssen wir denn hin?«
»Ich habe auch nach Carolin gefragt«, sagt Che Ling, ohne ihre Frage zu beantworten.
»Und?«
»Schweigen im Walde. Damit will niemand etwas zu tun haben. Man liest davon in der Zeitung und schweigt. Das gefällt mir nicht.«
»Und was soll das heißen?«
Che Ling beugt sich vor.
»Wenn es um so etwas wie einen vorgetäuschten Selbstmord geht, dann reden die Leute darüber, spekulieren, stellen auch schon mal eine Vermutung an. Wie jeder andere in der Stadt. Aber hier fällt kein Wort. Nichts.«
»Und woran liegt das?«
»Ist kein gutes Zeichen, Lina. Vielleicht will man sich nicht die Finger verbrennen. Ich hoffe nur, ich liege falsch.«
»Ich glaube schon, dass du falsch liegst«, sagt Lina. »Hier geht es schließlich nicht um einen Zuhälterkrieg oder um Drogengeschäfte.«
Plötzlich überzieht Che Lings Gesicht ein Lächeln. »Vielleicht hast du Recht«, sagt er, »komm.«
Sie gehen die Reeperbahn hinunter bis zum Hans-Albers-Platz und biegen dann in eine kleine Nebenstraße ein. Die Clubwerbung beleuchtet fast die ganze Gasse. »Stab und Stecken«, liest Lina laut und sieht Che fragend an.
»War früher ein normales Bordell«, sagte Che Ling. »Die Besitzerin hat einen Bums für Frauen daraus gemacht.«
»Das heißt?«
»Strippende Kerle. Auf Wunsch auch mehr.«
»Das läuft? In solch einer finsteren Kiez-Ecke?«
»Die Kundinnen, die herkommen, haben es gern ein bisschen verrucht. Die wollen ja nicht ins Kabarett.«
Die Metalltür ist von einem Hünen bewacht, der Che Ling kurz zunickt und den Weg freimacht. Im Eingangsbereich befindet sich ein Glitzervorhang, dann stehen sie in einem Raum, der ganz in Rot gehalten ist.
»Die haben die Einrichtung einfach beibehalten«, sagt Che Ling. »Das kommt an.«
Schräge Strichmuster an den schweren Samttapeten, Plüschsofas neben Ledersesseln. Erleuchtet wird der Laden von roten Kandelabern aus den 1950er Jahren. Es riecht nach Veilchen und Vanille. Ein Fenster wurde mit einem Plakat überklebt, das zwei Männer mit im Schritt ausgebeulten Lederhosen zeigt. Einer trägt eine lederne Baseballkappe und hält sich an einer Lederschlaufe fest, während der andere ihm über die Brustwarze leckt. Am unteren Rand des Plakates steht: »Einen Schläger haben beide.«
»Tja«, sagt Lina. »Genau das Richtige für Betriebsausflüge und Weihnachtsfeiern.«
Sie wirft einen Blick in die Speise- und Getränkekarte und wundert sich über die
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