Seelensplitter: Thriller (German Edition)
weil er sich neben sie legen wollte.
Eines Tages teilten die Pflegeeltern Lina mit, dass sie sie adoptiert hatten. Sie saßen zu dritt bei Kuchen, Kaffee und Kakao, doch keiner von ihnen konnte sich wirklich freuen.
Lina steht vor dem kleinen Haus, aus dem sie mit achtzehn Jahren ausgezogen war. In den ersten Monaten danach hatte sie ihre Pflegeeltern noch regelmäßig besucht. Mit der Zeit jedoch wurden ihre Besuche immer seltener. Sie kam nur noch zu Geburtstagen oder besonderen Anlässen, bis sie den Kontakt irgendwann schließlich ganz abgebrochen hatte.
Das Haus ist grau geworden, denkt Lina, die Farbe an den Fenstern ist schmutzig grau, die Vorhänge sind mausgrau, und auf den Dachziegeln hat sich graubraunes Moos gebildet.
Im Vorgarten blühen vereinzelt Krokusse, um die sich niemand zu kümmern scheint. Offenbar hat jemand Müll auf die kleine Rasenfläche geworfen. Das Treppengeländer neben den Stufen zur Haustür ist verrostet, der Briefkasten verbeult.
Lina klingelt. Sie hört von drinnen jemanden heranschlurfen. Langsam öffnet sich die Tür, und ihr Adoptivvater steht vor ihr. Er hat ein Geschirrtuch in der Hand.
»Ja?«, sagt er und sieht Lina mit leeren Augen an.
»Ich bin’s. Lina.«
»Ja?«
Sie umarmt ihn und bemerkt einen leicht verwirrten Ausdruck in seinen Augen, als könnte er sich nur mit äußerster Anstrengung an sie erinnern.
»Papa? Du erkennst mich doch?«
»Lina. Natürlich, Lina. Aber deine Haare … Wie schön, dass du kommst.«
»Ich dachte, ich besuche euch mal.«
»Euch?«, sagt er und sieht Lina verständnislos an. Dann trocknet er seine Hände am Geschirrtuch ab und sagt: »Mutter ist tot. Sie ist letztes Jahr gestorben.«
Lina zuckt zusammen.
»Das tut mir sehr leid«, sagt sie. »War sie krank? Wenn ich es gewusst hätte …«
»Sie ist einfach umgefallen. Und dann war sie tot«, sagt er. »Als ich in die Küche kam, lag sie dort. Ich hatte nicht gehört, dass sie gefallen war. Sie war schon tot, jede Hilfe kam zu spät.«
Dann reißt er sich von seinen Erinnerungen los, sieht Lina freundlich an und sagt: »Jetzt komm aber herein. Ich mach uns einen Kaffee.«
Sie setzt sich an den Küchentisch, der immer noch vor dem Fenster steht. Von hier aus kann man die U-Bahn sehen, die keine fünfzig Meter entfernt vorbeifährt. Wie oft hat sie hier früher gesessen und die Menschen beobachtet. Sich gefragt, woher sie kamen, wohin sie fuhren, ob Sorgen sie plagten und ob es jemanden unter ihnen gab, dessen Bruder auch tot war.
»Wie schön, dass du mal da bist«, sagt ihr Adoptivvater und stellt zwei Tassen auf den Tisch, in die er Kaffeepulver gefüllt hat. Er gießt heißes Wasser darüber und stellt eine Dose Kondensmilch auf den Tisch.
»Es ist damals nicht gut gelaufen für dich, was?«
»Wie meinst du das, Papa?«
»Nach Ralfs Tod … es … wir waren so … wir hätten uns viel mehr um dich kümmern müssen.«
»Aber nein, Unsinn«, sagt Lina. »Ich habe mich wohlgefühlt, ich hatte es gut bei euch, wirklich gut.«
»Nein«, sagt er. »Du hattest es nicht gut. Wir haben nur noch funktioniert. Wir haben Ralfs Tod nicht überwunden, wir haben es nicht geschafft.«
Er schlürft einen Schluck Kaffee und lächelt sie traurig an.
»Du bist die Einzige, die von unserer kleinen Familie übrigbleibt. Sag, wie geht es dir? Bist du verheiratet? Hast du Kinder?«
»Nein, Papa, es war noch nicht der Richtige dabei.«
»Hast du einen Freund?«
»Nichts Festes. Du kennst mich ja.«
Lina sieht, dass er sich wieder in seinen Erinnerungen zu verlieren droht.
»Wie kommst du denn allein zurecht? Oder hast du Hilfe?«, fragt sie rasch.
»Ja«, antwortet er, »ja, da kommt einmal in der Woche eine Frau, die mir hilft.«
Sie erzählt über ihre Arbeit bei der Polizei, über die Kollegen, dass sie sehr gern verreisen würde, dass es aber gerade nicht gehe.
Dann erkundigt sie sich nach dem Grab ihrer Adoptivmutter.
»Es ist neben Ralfs Grab«, sagt er. »Und für mich ist auch noch Platz dort.«
Lina spürt ihr schlechtes Gewissen. Warum hatte sie nur damals keinen anderen Weg gefunden, sich gegen Ralf zur Wehr zu setzen? Warum hatte sie ihn töten müssen? Der einsame alte Mann, der ihr gegenübersaß, tat ihr leid. Und er machte ihr noch nicht einmal einen Vorwurf, dass sie sich so viele Jahre nicht mehr hatte blicken lassen.
»Sag mal, Papa, wie war das eigentlich, als ich zu euch kam? Wolltet ihr ein Kind adoptieren? Habt ihr mich dann eines Tages einfach
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