Seelensplitter: Thriller (German Edition)
bekommen?«
»Nein. Wir wollten ein Pflegekind aufnehmen. Mutter konnte nach Ralf keine Kinder mehr bekommen. Die Anfrage vom Jugendamt kam aus heiterem Himmel. Sie fragten, ob es möglich wäre, dich bei uns unterzubringen. Und wir haben uns damals gewaltig gefreut.« Er lächelt versonnen. »Du warst damals sehr zurückhaltend.«
»Vielleicht war ich auch verängstigt?«, fragt Lina.
»Ja, ganz bestimmt auch verängstigt. Es war ja alles neu für dich.«
»Weißt du, was ich vorher erlebt habe? Weißt du, warum man mich meiner leiblichen Mutter weggenommen hat?«
Sein Blick beginnt merkwürdig zu flackern, und über seiner Oberlippe bilden sich Schweißperlen.
»Wie … was meinst du?«, sagt er. Sein Ausdruck ist jetzt fast ängstlich.
»Was weißt du über meine Mutter? Über Irene Heise? Hat sie mich … war sie … war da vielleicht Gewalt im Spiel?«
»Nein. Nein. Sie hatte schon fünf Kinder. Sie konnte sich nicht mehr um dich kümmern. Das wurde damals alles vom Amt geregelt.«
»Aber kann es nicht sein, dass noch etwas anderes passiert ist? Etwas Schlimmeres?«
»Nein«, sagt er.
Lina weiß, dass er lügt. »Ich muss es wissen. Es … es ist wirklich sehr wichtig für mich.«
Er sieht sie an, und Lina erkennt in seinem Blick jetzt einen Anflug von Panik.
»Ich weiß darüber nichts«, sagt er. »Da musst du das Amt fragen. Die haben das alles geregelt. Frag das Amt.«
Sein letzter Satz klingt fast flehend. Vielleicht hatten ihre Adoptiveltern einander geschworen, Lina niemals zu erzählen, was ihr widerfahren war, bevor sie zu ihnen kam.
»Weißt du, ob Irene Heise meine leibliche Mutter ist? Und wo ich sie finden kann?«
Sie spürt, wie erleichtert er ist, dass sie ihn nicht weiter mit Fragen über ihre Vergangenheit löchert.
»Es hieß vor Jahren, sie sei in einem Heim.«
Lina kennt ihren Adoptivvater. Sie weiß, dass sie nicht mehr aus ihm herausbringen wird und dass da noch etwas Entscheidendes fehlt.
Sie trinken den Kaffee und unterhalten sich noch ein wenig über Belanglosigkeiten. Schließlich macht Lina sich zum Aufbruch bereit, dankt ihm für den Kaffee und verspricht, bald wiederzukommen. Er wünscht ihr zum Abschied viel Glück.
Als sie schon die Treppe hinuntergeht, ruft er sie noch einmal zurück.
»Könntest du mir vielleicht deine Adresse geben?«
Lina zieht Zettel und Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und notiert ihre Adresse und die Telefonnummer darauf.
»Es ist nur … nun, das Haus«, sagt er. »Es ist doch sonst niemand mehr da. Irgendwer muss es ja einmal übernehmen oder verkaufen.«
»Aber das hat doch noch viel Zeit«, antwortet Lina. Wieder spürt sie das schlechte Gewissen an sich nagen. Sie nimmt sich fest vor, den alten Mann bald wieder zu besuchen. Sie umarmt ihn, dreht sich um und eilt Richtung Gartentür.
Der Adoptivvater ruft ihr nach.
»Pass auf dich auf, Lina! Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist vorbei. Niemand wird dir mehr etwas antun. Hörst du? Niemand!«
Dann hört sie, wie die Haustür ins Schloss fällt.
D er Weiße Drache hat mir das neue Versteck für das Essen gezeigt. Es ist verborgen in dem großen Teddy. Er hat die Naht geöffnet, Plastikkugeln herausgenommen und Schokolade, Kekse und Brot hineingestopft. Niemand außer uns darf es wissen. Auch nicht die Rote. Ich musste schwören.
Der Weiße Drache sagt, dass wir auf einer Reise sind, und da braucht man Proviant. Aber wir müssen noch warten. Denn die Welt wurde auch nicht an einem Tag erschaffen.
Von meinem Fenster aus kann ich sehen, wie er und die Rote zum Einkaufen gehen. Er dreht sich um und winkt mir zu. Dabei kann er mich nicht sehen, denn ich bin hinter dem Vorhang.
Der Weiße Drache klopft an die Wand. Ist eingeschlossen, kann man nichts machen. Der Weiße Drache sagt, dass er manchmal durch die Wände sehen kann. Und durch meinen Körper direkt in mein Herz. Der Weiße Drache steht auf der anderen Seite der Wand und hebt die Faust.
Drei Mal Klopfen heißt: Denk an dich. Zwei Mal: Nimm ein Buch. Fünf Mal: Schlaf jetzt.
Es tut weh da unten. Es blutet. Ich stehe auf dem Teppich. Es tropft.
»Habe ich meiner Prinzessin wehgetan?«, hat er mich gefragt. Ich habe den Kopf geschüttelt.
»Zeig keinen Schmerz«, sagt der Weiße Drache. »Niemals. Er hat Freude daran. Wenn du darüber sprichst oder wenn du weinst, wird es nur schlimmer. Schrei nicht. Denn wenn du einmal schreist, wird er dein Schreien immer wieder hören wollen.«
Wir sind auf einer Reise. Ich
Weitere Kostenlose Bücher