Seelensplitter: Thriller (German Edition)
ihr aufsteigen, die keine Konturen annehmen und das Gefühl der Angst hinterlassen.
Ein leichter Luftzug in ihrem Rücken. Die Wirtin sieht mit schreckgeweiteten Augen über Linas Schulter hinweg. Auch Che Ling erstarrt. Instinktiv dreht Lina sich um.
Vor ihr steht jemand mit einer Obama-Maske. Schwarze Motorradmontur, in der Hand eine Pistole. Er oder sie macht einen Schritt auf Lina zu und drückt ihr die Mündung der Pistole gegen die Stirn.
Lina will aufschreien, doch da ist keine Luft, die sie ausstoßen könnte, und auch die Stimmbänder versagen ihren Dienst.
Die maskierte Person spannt den Hahn und drückt ab.
Lina sieht einen Blitz inmitten des feurigen Rauchs. Die Explosion reißt ihr den Kopf nach hinten. Dann wird alles schwarz.
18
E in Auge erscheint zwischen den Stäben. Es zwinkert ihr zu. Im Weiß der Pupille zucken Äderchen.
»Komm«, sagt die Stimme. »Du bekommst ein neues Kleidchen.«
Lina schüttelt den Kopf. Sie ist nackt, und sie friert. Die Luft draußen ist gelb. Sie erkennt eine Wiese, auf der ein schöner Fliegenpilz steht.
Dann erscheint ein Gesicht. Und eine Hand, die ihr zuwinkt.
»Komm schon und sieh ihn dir an. Er riecht nach Schokolade. Sieh dir nur sein Kleidchen an. Rot mit weißen Tupfen. Auch du könntest so ein Kleidchen haben. Genauso schön wie das da draußen.«
Lina öffnet eine weiße Holztür. Plötzlich bildet sich Rauch über dem Pilz. Dann folgt eine ohrenbetäubende Explosion, und blutige Fetzen liegen auf der Wiese.
Von sehr weit weg hört Lina jemanden ihren Namen rufen. Und noch einmal: »Lina!«
Die Lider öffnen. Vorsichtig. Das grelle Licht treibt Tränen in die Augen. Es sticht. Sie sieht die Konturen einer Person, ein weißes Schild. Sie versucht, die Schrift zu lesen, schließt die Augen, öffnet sie wieder, versucht es erneut.
»Ein Knalltrauma, keine Angst«, steht auf dem Schild. Ein dunkler Schatten legt sich über sie. Sie spürt Haare auf ihrer Wange. Dann eine Berührung an ihrem Ohr.
»Lina, du kannst jetzt schlafen.«
Der Schatten entfernt sich, und sie erkennt Che Lings Gesicht. Neben ihm steht jemand in einem weißen Kittel.
Ein neues Schild erscheint vor ihr.
»Schreckschusspistole. Trommelfell ist in Ordnung. Du brauchst nur etwas Zeit.«
Sie schließt die Augen und dämmert in ein dunkles Stück Watte hinein. Keine Bilder, keine Stimmen.
Als sie aufwacht, ist es dunkel um sie herum. Sie spürt ihren Arm, hebt ihn, führt die Hand aufs Gesicht und ertastet eine Art Schlafbrille.
»Gott sei Dank«, sagt eine Männerstimme. »Es wird alles gut.«
Die Worte klingen seltsam verzerrt und die Stimme blechern. Sie schiebt die Brille beiseite und erkennt Sven, der auf einem Stuhl neben dem Bett sitzt.
»Du bist im Krankenhaus, Lina«, sagt er. »Hauptsache, deine Augen und Ohren sind in Ordnung.«
Sie hört die Stimme und ein Pfeifen. Ihr Mund ist trocken.
»Trinken«, flüstert sie.
Sven reicht ihr ein Plastikgefäß mit einer Öffnung, an der sie saugen muss.
Sie hebt den Kopf, nimmt ein paar kleine Schlucke und legt sich wieder zurück.
»Kopfschmerzen«, flüstert sie.
»Ich sag Bescheid.«
Kurz danach kommt eine Krankenschwester, die ihr eine Tasse vor den Mund hält. Sie schluckt eine Tablette und trinkt noch einen Schluck.
»Du musst dich jetzt ausruhen. Jemand hat dir eine Schreckschusspistole an den Kopf gehalten. Erinnerst du dich?«
Lina sieht die Gestalt mit der Obama-Maske vor sich. Die Pistole. Dann der grelle Blitz.
»Nur eine Frage, Lina. Weißt du, wer das war?«
»Zwei Fragen«, flüstert Lina, und es ärgert sie, dass ihre Stimme so leise ist.
»Schön. Weißt du, wer das war?«
»Obama«, sagt sie und schläft wieder ein.
»Ich bin der Erzengel«, sagt eine Stimme. »Du gehörst nicht dazu.«
Sie steht immer noch hinter dem Gitter, und der Mann hat plötzlich das Gesicht von Ralf.
»Steuern«, sagt Ralf. »Du hast deine Steuern noch nicht bezahlt.«
Dann streckt er ihr seine leere Hand entgegen.
Zwei Tage später verlässt Lina das Krankenhaus. Sie müsse sich von einem Ohrenarzt behandeln lassen, sagt der Oberarzt. Es könne sein, dass der Tinnitus ihr noch eine Zeit lang »Unterhaltung« biete.
»Tröstlich. Was ist mit Tabletten?«
»Leider nichts«, sagt der Oberarzt.
Eine eindringliche Warnung, denkt Lina. Aber wovor? Und wie verhält sie sich jetzt richtig? Beim nächsten Mal wird es keine Schreckschusswaffe sein. Nur wenn sie sich an ihre Vergangenheit erinnert, hat sie eine Chance,
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