Seelensplitter: Thriller (German Edition)
sich gegen den Angreifer zu wehren.
Kaum ist sie zu Hause, meldet sich Sven. Wie üblich mit fürsorglicher Stimme, die von einem Moment zum andern ironisch wird. Wie oft hat Lina erlebt, dass er sich besorgt und ernsthaft gab, wenn seine Frau anrief. Kaum hatte er aufgelegt, zog er mit ätzendem Spott über sie her. Warum sollte das bei ihr anders sein? Sie war es, die ihn verlassen hatte. Und das passt nicht in seine Vorstellung davon, wie die Dinge zu laufen haben. Sven Emmert verlässt man nicht, dem liegt man zu Füßen, und wenn es sein muss, dann lässt man sich gern auch mal vermöbeln. Ist ja für den Lustgewinn.
Er bedrängt sie am Telefon mit seinen Fragen, sie wiederholt geduldig ihre Antworten. Nein, sie weiß nicht, wer der Angreifer sein könnte. Nein, sie weiß nicht, warum der in die Kneipe gestürmt ist und ihr die Waffe an den Kopf gehalten hat. Nein, ihr ist an der Person nichts aufgefallen. Nein, sie weiß nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war, und nein, die Person hat nichts zu ihr gesagt.
Nur zu Che Ling stellt er keine Frage.
Lina macht einen Spaziergang hinunter zum Kanal und setzt sich auf eine Bank.
Heute stehen vier Angler am Ufer und halten ihre Ruten über das Wasser. Einer von ihnen hat Glück gehabt, in einem Eimer neben ihm planschen zwei Fische im Wasser. Ein Mädchen, das an der Hand seiner Mutter vorbeihopst, reißt sich los und lugt neugierig in den Eimer. »Mama, der lebt noch!«, ruft sie und zeigt aufgeregt mit ihrem kleinen Zeigefinger in den Eimer.
Ich lebe auch noch, denkt Lina. Aber wenn es so weitergeht …
Sie muss ihre Ermittlungen in eigener Sache beschleunigen. Es reicht nicht, dass sie im Nebel herumstochert.
Von Rückführungen durch Hypnose hat sie mal gehört. Aber sie will sich nicht an ein früheres Leben im Mittelalter erinnern, sondern daran, was passiert ist, bevor sie zu ihrer Pflegefamilie kam. Hatte am Ende der Tod ihres Stiefbruders doch etwas mit diesen schrecklichen Dingen zu tun? Nach all den Jahren? Gab es womöglich jemanden, der ihn rächte?
Die Mutter wirft einen Blick in den Eimer, zieht das Mädchen weg und sagt: »Der muss jetzt schlafen.«
»Im Wasser kann man doch nicht schlafen«, sagt die Tochter.
Lina klappt ihr Notebook auf und steckt den USB-Stick ein. Sie googelt den Namen »Irene Heise« und landet Hunderte Treffer. Auch das Telefonbuch spuckt jede Menge Irene Heises aus. Möglich wäre, dass Irene Heise wegen einer Heirat mit einem anderen Namen eingetragen oder aber längst verstorben ist.
In dem Ort, den die Frau vom Jugendamt auf dem Zettel notiert hat, ist niemand mit diesem Namen zu finden. Ihr fiel ein, was ihr Adoptivvater gesagt hatte. Sie müsste also in den Altersheimen in der Nähe des Wohnortes suchen.
In der Lokalpresse wird von der Ermordung einer jungen Frau in Hamburg-Eimsbüttel berichtet. Weder der Name der Toten noch Tatort noch Fundort werden angegeben. Sven Emmert rückt kaum mit Informationen heraus, was nur heißen kann, dass er keine brauchbaren Hinweise von Zeugen oder Nachbarn erwartet.
Auf einmal taucht wie aus dem Nichts Che Ling auf und setzt sich neben Lina auf die Bank.
»Na? Von den Toten auferstanden?«, fragt er und starrt ihr Ohr an wie ein seltenes Insekt.
»Spionierst du mir nach?«
»Bei dir zu Hause hat niemand geöffnet, da habe ich mich an deinen Lieblingsplatz erinnert, von dem du mir erzählt hast. Wie geht’s dir?«
»Ich bin vor allem erleichtert.«
»Wie kann man nach solch einem Angriff erleichtert sein? Alles okay mit dir?«
»Doch, doch«, sagt Lina. »Ich weiß jetzt, dass ich mir nichts vorgemacht habe. Dass ich mit meiner Vermutung richtig liege, dass mich da jemand in was reinziehen will.«
»Reinziehen? Das war eine Drohung.«
»Stimmt«, sagt Lina, »und ich habe keine Ahnung wovor.«
»Wenn du glaubst, dass es etwas mit deiner Vergangenheit zu tun hat, dann frag deine leibliche Mutter.«
»Gute Idee«, sagt Lina. »Ich werd einfach mal im Telefonbuch nachsehen.«
»Chinesen haben bisweilen überraschende Vorschläge auf Lager.«
Er kramt in der Tasche seiner Baumwolljacke und fördert einen Zettel zutage.
»Schwesternhaus St. Gabriel.«
»Und?«
»Ist ein Heim für Schwestern, die sich in der Krankenpflege verdient gemacht haben. Ein schönes Altersheim als Belohnung für die Mühe eines aufopferungsvollen Lebens.«
»Da lebt Irene Heise? Eine Ordensschwester? Das gibt’s doch gar nicht!«
»Ist gar nicht weit weg, in der Nähe der
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