Seelensplitter: Thriller (German Edition)
erinnern«, sagt sie. »Ich bin ein bisschen wirr da oben.« Sie tippt mit dem Finger an ihre Stirn und lächelt verlegen.
Lina glaubt ihr kein Wort.
»Sie sind nicht meine Mutter«, wiederholt sie.
»Aber du musst dich doch daran erinnern, dass du mich besucht hast!«
»Ja. Sie sind trotzdem nicht meine Mutter. Hören Sie! Es geht um eine lebenswichtige Angelegenheit«, sagt Lina. »Ich muss die Wahrheit wissen.«
»Die Wahrheit«, sagt Irene Heise und sieht hoch in den Himmel. »Mein Gott, die Wahrheit.«
»Sie haben keine fünf Kinder, nicht wahr?«
»Nein. Es war auch so sehr schwierig für mich. Ich hatte meinen Weg noch nicht gefunden …«
Lina fragt sich, warum die Frau so beharrlich lügt. Eine Spur Angst ist in ihrem Ausdruck zu erkennen. Angst und wachsende Unsicherheit.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragt Irene Heise.
»Sie haben mich nicht als Baby zur Adoption freigegeben, sondern erst viel später.«
»Du warst in der Zwischenzeit bei meiner Schwester und bei meiner Mutter … Es tut mir leid, aber ich war nicht in der Lage, dich zu versorgen.«
Diese Frau ist alles andere als wirr, denkt Lina, zu jeder Frage, die ich ihr stelle, erfindet sie eine neue Geschichte. Woher nimmt sie sich das Recht, mich so zu belügen?
»Ich kann es dir nicht erklären, es …«
»Was ist mit meinem Vater? Wer ist er?«
»Ja, er war ein Teil meiner Probleme. Er hat getrunken.«
Wieder eine neue Geschichte, na klar, der saufende Ehemann.
»Ich habe mich von ihm getrennt und mit meinem alten Leben abgeschlossen. Wie das so ist.«
Wie das so ist! Lina ist klar, dass sie hier nicht weiterkommt.
»Und was ist mit der angeblichen jungfräulichen Empfängnis?«
»Wie bitte?«
»Offenbar weiß niemand etwas von einer Tochter.«
»Würden Sie das herausposaunen? Das hier ist ein Orden, da macht sich ein uneheliches Kind nicht so gut.«
»Zwei«, sagt Lina.
»Was soll das heißen?«
»Nun, ich bin nicht die erste Tochter, die hier aufkreuzt.«
Irene Heise sackt ein wenig tiefer in ihren Stuhl und murmelt: »Ich … kann mich nicht erinnern … bin so müde.«
Lina wendet sich zum Gehen, als die Frau mit halblauter Stimme sagt: »Kind, es tut mir leid. Aber du musst die Vergangenheit ruhen lassen. Sie ist vorbei. Für immer vorbei.«
Lina zuckt zusammen. Das sind fast dieselben Worte, die ihr Adoptivvater benutzt hatte.
Lina geht noch einmal zurück in das Büro.
Die Leiterin sieht von einem Formular auf. Neben ihr steht jetzt eine blass aussehende junge Schwester, die einen aufgeschlagenen Aktenorder in den Händen hält.
»Ja?«
»Es scheint so, als hätte meine Mutter große Erinnerungslücken.«
»Wirklich? Also ich finde sie ja sehr fit im Kopf.«
»Gibt es die Möglichkeit, in ihre Akte zu sehen? So etwas führen Sie doch, oder?«
»Nein, das ist leider völlig ausgeschlossen.«
»Aber …«
Die junge Ordensschwester zupft an ihrem Ornat und sieht betreten zu Boden.
»Ich kann Ihnen nur sagen, dass Ihre Mutter schon in sehr jungen Jahren in unseren Orden eingetreten ist«, sagt die Frau, die die Oberin zu sein scheint. »Das ist kein Geheimnis.«
»Sie sagten, dass auch meine Schwester schon hier war?«
»Ja. Jedenfalls hat sie ebenfalls gesagt, sie sei die Tochter von Frau Heise.«
»Könnte ich ihren Namen und ihre Adresse bekommen?«
»Also ich weiß nicht, ob ich …«
Sie sieht sie ratlos an, und Lina merkt, dass auch sie sich keinen Reim auf diese plötzlichen Töchterbesuche machen kann.
»Nun, es geht um meine Schwester, Sie könnten mir auch einfach nur die Telefonnummer geben.«
»Nein, so leid es mir tut, aber das geht nicht.«
»Ich lasse Ihnen meine Handynummer hier«, sagt Lina und schreibt sie auf einen Zettel, den sie aus ihrer Tasche kramt.
Auch wenn ihre angebliche Schwester erst geboren wurde, nachdem Lina weggegeben worden war, passt das alles nicht zusammen. Ihre angebliche Mutter geht als junge Frau in einen Orden, um als Krankenschwester zu arbeiten und Menschen zu pflegen, bekommt dann nacheinander zwei Babys, die sie in die Obhut fremder Familien gibt? Unsinn. Außerdem würde sie es spüren, wenn sie ihrer leiblichen Mutter gegenübersteht. Glaubt sie jedenfalls. Sie hat auch nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen Irene Heise und sich selber erkennen können.
Lina geht Richtung Eppendorf und überquert einen Platz, auf dem ein kleiner Biomarkt abgehalten wird. An den Marktständen werden Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, frische Pasta und Suppen
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