Seelensplitter: Thriller (German Edition)
abgeheftet haben.«
»Gibt es denn keinen, der das federführend bearbeitet hat? Die Pflegevormundschaft und die Auswahl einer geeigneten Familie?«
»Klar«, sagt Sven Emmert. »Da müsste deine Pflegefamilie doch auch noch Papiere haben. Zuständig war ein gewisser Amtsleiter Hans-Peter Heinz, aber …«
»… der ist seit zehn Jahren tot«, ergänzt sie seinen Satz und legt auf.
Kreisverkehr, denkt Lina. Zumindest mal eine Abwechslung.
Astrid muss die Papiere irgendwo versteckt haben. Das tun Menschen, wenn sie Angst haben. Und Astrid hat sich regelmäßig mit den Frauen aus der Therapiegruppe getroffen. Auch wenn sich alles in Lina sperrt, sie muss in Erfahrung bringen, was da außer Stripshowbesuchen und Swingerpartys sonst noch gelaufen ist.
Ihr Handy läutet. Che Ling.
»Der einzige männliche Teilnehmer in eurer Gruppe …«
»Paul Ender«, sagt Lina.
»Er ist verschwunden. Seit Monaten schon. Hat seine Wohnung gekündigt, keinen Nachsendeantrag gestellt, und kein Mensch hat ihn mehr gesehen.«
»Und wie bekommt ein Chinese so etwas heraus?«, fragt Lina.
»Er war Mitbesitzer eines Cafés auf St. Georg. Er hat seinen Anteil dem Kompagnon überschrieben, eine kleine Summe Bargeld genommen und sich aus dem Staub gemacht.«
»Du kommst wenigstens weiter«, sagt Lina.
»Seine Kollegen im Café sagen, er habe sich verhalten, als sei er auf der Flucht. Als sei jemand hinter ihm her.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er an diesen Partys in den Striplokalen teilgenommen hat.«
»Dann muss es einen anderen Grund für seine Flucht geben«, sagt Che.
»Man verschwindet doch nicht einfach so. Es muss doch Verwandte oder Freunde geben, denen er Bescheid gesagt hat, Bankverbindungen, weiß der Teufel.«
»Hey, ich bin nicht die CIA. Nicht mal der Bundesnachrichtendienst.«
»Kann es nicht sein, dass er einfach einen anderen Namen angenommen hat?«
D er Weiße Drache hat mir einen Sarg gebaut und ihn weiß angestrichen. Aus einer Holzkiste mit einem Deckel darauf und mit einem Bettchen aus meinem blutigen Schlafanzug. Und oben auf dem Deckel ist ein Stern aufgeklebt.
Dann hat er die Gerlinde hineingelegt. Das ist meine Puppe. Und dann hat der Weiße Drache gesagt: »Das bist du. Sieh genau hin. Erkennst du dich?«
Aber ich will nicht das tote Kind in meinem Arm sein.
»Wer stirbt, muss niemals mehr Angst haben«, hat der Weiße Drache gesagt und eine Kerze angezündet. Und dann haben wir mich zu Grabe getragen. Zu Grabe, so heißt das. Zehnmal um den Tisch herum, verbeugen und Hände falten. Dann haben wir ein Gebet gesprochen und den Sarg aus dem Fenster hinausgeworfen.
»Das ist so gut wie vergraben«, hat der Weiße Drache gesagt und Essen aus unserem Versteck geholt.
»Das ist der Leichenschmaus.« Da muss man sich Dinge über die Verstorbenen erzählen.
Plötzlich stand die Rote in der Tür. Sie hielt den verbeulten Sarg in der Hand. Ich bekam drei Tage nichts mehr zu essen.
Dann hat sie mir die anderen zwei Puppen und den Ponyhof weggenommen.
Die Rote hat sich an der Tür umgedreht. Der Schwarze Ritter stand auch da. Plötzlich hatte er eine Teufelsmaske auf.
Die Rote sagt: »Das passiert, wenn Kinder sterben wollen. Sie treffen den Teufel. Und der Teufel ist das Böse.«
Ich wusste: Wenn ich irgendwann durch diese Tür gehen will, dann muss ich durch das Böse hindurch, um hinauszukommen. Das Böse wird in mir sein … wenn ich durch diese Tür gehe. Und es ist schwer, es wieder loszuwerden.
20
S everin Carlheim hatte das Licht in seinem Behandlungszimmer gedimmt, wenn sie sich zu den Therapiesitzungen versammelten. In den Sommermonaten zog er die Vorhänge zu. Vier Salzkristalllampen verströmten ein gelbes Licht. Für Lina wurde dieser Termin immer mehr zum Ankerplatz der Woche, auch wenn sie sich das nicht eingestand. Aber zu hören, unter was die anderen Frauen litten, war erleichternd. Dinge ließen sich besser ertragen, wenn es anderen genauso beschissen oder noch beschissener ging als einem selbst.
Regeln vereinbarten sie nicht.
»Machen Sie es so, wie Sie es gern wollen. Was feststeht, sind der Termin und das Thema: Sprechen Sie über sich selbst und stellen Sie Fragen. Und noch etwas …«
Dann folgte eine theatralische Pause, in der die Frauen einander angesehen hatten.
»Eines noch: Sie dürfen vor den Sitzungen nichts trinken. Wer Alkohol intus hat, fliegt raus.«
Lina kann sich gut daran erinnern, wie Astrid in die Betroffenheitspause hinein mit einem
Weitere Kostenlose Bücher