Seelensplitter: Thriller (German Edition)
angeboten. Dazwischen brettern Kinder auf ihren Skateboards über die Betonstufen.
Linas Handy läutet.
»Die Tochter, ich meine, die andere Tochter von Schwester Irene …«
Lina meint, die Stimme der jüngeren Schwester aus dem Verwaltungsbüro wiederzuerkennen.
»Ja?«, fragt sie.
»Antje Kernel, Karlandweg 2.«
»Warum …«
»Sie haben ein Recht zu erfahren, wer Ihre leiblichen Verwandten sind. Ich muss auflegen.«
Immerhin, jetzt ist sie doch einen kleinen Schritt weitergekommen. Lina sieht sich den Straßenplan auf ihrem Handy an und schlägt den Weg zur U-Bahn ein.
Der Karlandweg 2 ist ein unscheinbares Mietshaus, das wahrscheinlich mal ein Klinkerbau war und nun mit einer weißen Fassade gedämmt ist.
Eine Frau in Linas Alter öffnet die Tür der Parterrewohnung.
»Ja?«, fragt sie.
»Ich … bin Ihre Schwester, also angeblich bin ich Ihre Schwester.«
Die Frau sieht sie erschrocken an und gibt ein gekünsteltes Lachen von sich.
»Ich dachte mir schon, dass ich nicht die Einzige bin.«
Sie bittet Lina in die aufgeräumte und mit Ikeamöbeln ausgestattete Wohnung. Vom Wohnzimmer aus führt eine Terrassentür in einen kleinen begrünten Hinterhof. Sie nehmen auf einer Couchgarnitur Platz.
»Die gute Irene Heise«, sagte Antje Kernel. »Sie ist die Sackgasse.«
»Kommt mir auch so vor«, antwortet Lina.
Antje Kernel erzählt, dass auch sie im Zuge der Suche nach ihren leiblichen Eltern auf Schwester Irene gestoßen sei. Man habe ihr die Adresse gegeben, nachdem sie einen Verwaltungsprozess angestrengt hatte, der sich fast ein ganzes Jahr lang hinzog.
»Wer ist diese Frau wirklich?«, fragt Lina.
Antje Kernel rührt in ihrem Kaffee.
»Bei mir geht es um eine Krankheit. Es wäre wichtig, die Krankengeschichte meiner Mutter zu kennen, denn dann gäbe es womöglich eine bessere Therapie … Aber ich will Sie damit nicht langweilen.«
»Kommt Irene Heise als Ihre Mutter sicher nicht infrage?«
»Ausgeschlossen. Ihre selbst gebastelten Geschichten hat sie Ihnen ja vielleicht auch aufgetischt.«
»Aber warum erzählt sie solche Lügen?«, fragt Lina.
»Ich weiß es nicht«, sagt Antje Kernel. »Vielleicht geht’s um Geld, vielleicht um irgendein düsteres Geheimnis. Allerdings werde ich langsam ein bisschen neugierig.«
»Es muss doch Sachbearbeiter in der Behörde geben. Unterlagen. Da wird doch entschieden, welches Kind von welcher Pflegefamilie aufgenommen wird«, sagt Lina, um herauszufinden, wie weit Antje Kernel mit ihrer Suche ist.
»Mein zuständiger Bearbeiter hieß Hans-Peter Heinz.«
»Ich hab nicht mal einen Namen«, sagt Lina. »Was ist mit diesem Heinz? Konnten Sie ihn fragen?«
Antje Kernel schüttelt den Kopf. »Er ist seit zehn Jahren tot.«
Sie mustert Lina verstohlen von der Seite.
Lina hat den Eindruck, dass sie mit irgendetwas nicht herausrücken will. Sie beantwortet Linas Fragen immer einsilbiger. Gleichzeitig vermittelt sie eine zunehmende innere Unruhe, und ihre Gesten werden fahriger und nervöser. Hat es vielleicht mit der Krankheit zu tun, von der sie gesprochen hat? Lina beschließt, die Frau nicht länger zu behelligen, und verabschiedet sich.
In ihrer Wohnung angekommen, öffnet sie sich eine Flasche Wein.
Haufenweise dunkle Andeutungen und immer wieder Sackgassen. Unentschlossen starrt sie das Telefon an und wählt dann die Dienstnummer von Sven Emmert.
Er ist tatsächlich noch im Büro. »Ich glaub’s nicht. Du meldest dich? Freiwillig? Wie geht’s deinem Ohr?«
»Bestens«, sagt Lina. »Gibt es Fortschritte? Ich meine …«
»Wir sind dran.«
»Du hast doch gesagt, dass Astrid vor ihrem Tod …«
»Vor ihrer Ermordung.«
»Ermordung. Du hast von Unterlagen gesprochen, die sie angeblich über mich gesammelt hat. Die sie von der Behörde bekommen hat.«
»Und?«
»Hast du da mal einen Blick reingeworfen?«
»Wir wissen davon, weil sie die Papiere zwar erhalten, aber nicht zurückgegeben hat. Da gibt es einen Vermerk, wann die Akten zurückmüssen.«
»Und?«
»Sie sind verschwunden. Auch in ihrer Wohnung haben wir nichts gefunden.«
Schon wieder eine Sackgasse!
»Es müssen uralte Akten sein«, fügt Sven Emmert hinzu. »Familien sind eine Illusion. Im Grunde bestehen sie nur aus Akten, Papieren …«
Bitte keinen Vortrag über Familien, Sven!, denkt Lina.
»Was ist mit den Sachbearbeitern?«
»Was soll mit ihnen sein? Die wechseln ihre Posten, werden pensioniert und können sich nicht daran erinnern, was sie in den Jahren alles
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