Seelensplitter: Thriller (German Edition)
freimütigen Bekenntnis vorgeprescht war.
»Ich schlage die Typen reihenweise in die Flucht.«
»Was haben Sie heute gemacht, bevor Sie hierhergekommen sind?«, fragte Carlheim.
»Nichts Besonderes«, antwortete Astrid überrascht. Offenbar hatte sie eine kleine Rede vorbereitet. »Gearbeitet. In einer langweiligen Behörde. Mit langweiligen Kollegen.«
Sie erzählte dann, dass sie oft traurig sei und überlege, mit allem einfach Schluss zu machen. Dabei blickte sie erwartungsvoll in die Runde, als wollte sie dafür gelobt werden. Doch keine der Frauen sah ihr in die Augen. Carolin fixierte ihre Schuhspitzen, die sie gegeneinanderrieb. Christina wühlte in ihrer Handtasche, Paul studierte angestrengt die Masken an der Wand.
»Ich wäre froh, wenn ich eine Arbeit hätte«, sagte Stefanie in die Stille hinein.
Lina erinnert sich, dass sie über diesen Themenwechsel erleichtert gewesen war. Es fiel ihr zwar nicht leicht, sich als Polizistin zu outen, aber es auf Dauer zu verschweigen ergab für sie auch keinen Sinn. So ausgefallen war ihr Beruf schließlich auch wieder nicht.
Stefanie sagte, dass sie kurz davorstand, eine Barista-Ausbildung zu absolvieren, obwohl sie sich viel lieber der Kunst widmen würde.
»Ich bin Grundschullehrerin«, sagte Pia und sah die andern unsicher an, als müssten sich alle gleich vom Stuhl werfen, weil sie es völlig undenkbar fanden, dass eine Lehrerin an einer Psychotherapiegruppe teilnahm. Sie gehe ganz und gar auf in ihrem Beruf, der eigentlich kein Beruf sei, sondern eine Berufung. Schon vor ihrer Einschulung habe sie perfekt lesen können und Spaß daran gehabt, anderen Kindern Geschichten vorzulesen. Irgendwie sei ihre berufliche Laufbahn vorgezeichnet gewesen.
Vorlesen. Lesen. Wann hatte Lina begonnen zu lesen? Sie konnte sich an manche Schulbücher erinnern und an Gedichte, die sie hatte auswendig lernen müssen, doch wann hatte sie die Bedeutung von Buchstaben begriffen? Wie war es möglich, dass sie sich an so entscheidende Momente in ihrer Kindheit nicht erinnern konnte? Tanzende Buchstaben. Etwas in ihrem Leben hatte mit tanzenden Buchstaben zu tun!
»Und Sie, Isabel?«, hörte sie Severin Carlheim fragen.
»Im Moment arbeite ich zu Hause, ich kümmere mich um alles und bin damit ausgelastet.«
»Haus…«, sagte Astrid, beendete ihren Satz jedoch nicht.
»Nenn es ruhig Hausarbeit«, sagte Isabel. »Aber das Haus ist riesig und der Garten auch …«
»Bepflanzt du ihn denn selber?«
Isabel lachte auf. Nein, dafür gäbe es Leute, die sich besser mit Obstbäumen, Kräuterbeeten und Gemüse aus dem Gewächshaus auskannten. Aber sie behalte das große Ganze im Blick.
Dann sah Carlheim Christina aufmunternd an.
»Ich?«, fragte sie. »Ich arbeite in einer Boutique in der Innenstadt. Esplanade.«
Stefanie pfiff durch die Zähne und ließ durch ein schiefes Lächeln keinen Zweifel daran, dass sie das ironisch meinte.
»Zur Künstlerin hat es eben bei mir nicht gereicht«, fauchte Christina, und dass ihr Beruf eine viel größere Herausforderung darstelle, als manche meinten, die keine Ahnung davon hätten. Dabei warf sie böse Blicke in Richtung Stefanie und Pia.
Paul sagte: »Kinder, wir werden uns doch nicht gleich an die Gurgel gehen. Ein wenig müssen wir uns für später aufheben, sonst wird es langweilig.«
Allgemeines Grinsen.
Er wäre gern Sängerin geworden, gestand Paul Ender, wobei er das »in« betonte.
»Die Figur hatte ich damals noch, aber mit der Stimme …«
Lina konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Paul zog die Augenbrauen in die Höhe und sah bedauernd auf seinen nicht vorhandenen Bauch.
»Tja, wer nichts wird, wird Wirt«, sagte er, seufzte und erzählte von seinem kleinen Café, das er mit einem Partner führte. Er schwärmte von seiner Arbeit dort und versprach, beim nächsten Mal für alle eine Kostprobe seiner Spezialität mitzubringen, Käsekuchen, der ihnen auf der Zunge zergehen würde.
Lina sah zu einer afrikanischen Maske, die ihr direkt ins Gesicht zu grinsen schien. Zu viele Augen, dachte sie und überlegte fieberhaft, mit welcher geschickten Ausrede sie diese Runde wieder verlassen konnte. Ihr fiel keine ein. Jede wäre fadenscheinig gewesen, und vor allem wäre sie aufgefallen. Hätte sich aus der Deckung begeben. Nein, sie musste mitspielen. Auf die Grenzen achten. Zuhören. Interessiert tun. Je mehr sie sich für die Schicksale der anderen interessierte, desto weniger würde man in ihr herumbohren. Notfalls würde
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