Seelensplitter: Thriller (German Edition)
erklärte Christina. »Ich packe die Artikel ein, und wenn ich Geldscheine oder eine Kreditkarte in der Hand halte, denke ich: Mensch, das könnte dein Geld sein, das da weggeht. Aber so kommt das Geld eben zu mir.«
»Dann hast du deine Kaufsucht ja einigermaßen im Griff, oder?«, fragte Astrid.
»Vor Schuhgeschäften muss ich mich hüten, dann wechsele ich immer die Straßenseite.«
Christina schnäuzte sich. Plötzlich begann sie zu lachen.
»Es gab eine Zeit, in der ich mir Löcher in die Socken geschnitten habe, damit ich mich nicht traue, meine Schuhe zur Anprobe auszuziehen. Das war wirklich krank.«
Eines hast du nicht erwähnt, dachte Lina, jedes Mal, wenn du herkommst, hast du eine neue Handtasche und dazu frisch manikürte Nägel. Christina registrierte es, als Lina auf ihre Hände blickte.
»Ach das«, sagte sie, als hätte sie in Linas Gedanken gelesen. »So eine Maniküre dauert eine Stunde. In der kann ich wenigstens nicht einkaufen. Es geht nur langsam voran, Stück für Stück«, sagte sie und sah etwas unsicher zu Severin Carlheim hinüber. Doch der kratzte sich durch den grauen Stoppelbart und sagte gar nichts.
Paul hatte Christina konzentriert zugehört.
»Denkst du gerade darüber nach, ob du über Christina ein paar schöne Kleider beziehen kannst, Paul?«, fragte Astrid provozierend.
Allgemeines Gelächter, nur Paul sah sie verdattert an.
»Du bist ja hier wegen deiner Macke, Frauenkleider tragen zu wollen.«
»Bin ich nicht«, sagte Paul. »Kleider tragen zu wollen ist keine Macke. Das hat was mit Geschmack, mit Weiblichkeit zu tun.«
»Und warum bist du dann hier?«, fragte Astrid, und ihre Augen blitzten.
»Ich bin hier, weil ich in die Dunkelheit gehe«, sagte Paul ernst.
»Depressionen?«, fragte Christina, die sich dafür revanchieren wollte, dass Paul ihr so aufmerksam zugehört hatte.
»Die kommen immer danach«, sagte Paul. »Ich meine wirklich die Dunkelheit.«
Er machte eine Pause und starrte betreten auf seine Hände.
»Ich gehe in Darkrooms. Anonymer Schwulensex. Es ist gefährlich.«
»Hast du Angst vor AIDS?«, fragte Lina.
»Das auch. Aber vor allem schäme ich mich entsetzlich dafür«, sagte er. »Es ist, als wollte ich mich umbringen, dabei lebe ich gern. Ich habe ein feines Café, einen tollen Lebenspartner, kenne eine Menge netter Menschen, und dann gehe ich in Darkrooms. So als wäre da noch jemand in meinem Kopf, der sagt: ›Geh und hol es dir ab, dein Päckchen mit AIDS wartet schon.‹ Es ist wie … wie eine Fernsteuerung.«
»Und wie oft musst du … ich meine, wie oft gehst du dahin?«, fragte Lina.
»Ich schaffe es, monatelang nicht hinzugehen. Aber ich denke jeden Tag daran. Die Fantasien lauern mir regelrecht auf.«
Lina bemerkte, dass Pia Landt immer nervöser wurde. Auch die Lehrerin dachte wahrscheinlich, dass es nach zwei oder drei Therapiesitzungen höchste Zeit war, ihre Geschichte zu erzählen, wenn sie hier nicht vergessen werden wollte.
»Ich liebe die Kinder«, sagte sie. »Am liebsten würde ich sie alle nacheinander an die Hand nehmen und ihnen blühende und duftende Gärten zeigen.«
»Bist du etwa wegen Kindesentführung hier?«, fragte Isabel, die sichtlich bemüht war, die Situation etwas aufzulockern, indem sie Astrids Rolle übernahm.
Pia ignorierte die Frage, nahm die Brille ab und legte sie auf den Tisch.
»Ich ertrage es nicht, wenn Kinder in Massen auf mich zustürmen.«
»Und wie verhältst du dich, wenn sie das tun?«, fragte Carolin teilnahmsvoll. Sie schien dieses Gefühl zu kennen.
»Schweißausbrüche, Angst … ich habe mich im Klo eingeschlossen. Schon öfter. Dabei habe ich doch den Anspruch, sie zu kultivierten Menschen zu erziehen. Menschen mit Feingefühl, mit Respekt vor den anderen, mit Sinn für Kunst. Menschen, die ihre Umwelt wahrnehmen, die Rücksicht nehmen …«
»Hört sich an wie die UNO-Charta«, meinte Astrid.
»Du verstehst mich falsch«, wehrte sich Pia. »Ich liebe sie. Ich möchte sie beschützen und in den Arm nehmen. Sie sind bezaubernd, wenn sie mit ihren aufgeregten Gesichtern vor mir stehen und zu mir hochsehen. Mit dieser Mischung aus Neugierde und Lebensfreude.«
Astrid lehnte sich in ihren Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Lina ahnte, dass nichts Gutes kommen würde.
Nach einer theatralischen Pause sagte Astrid: »Sag mal, Pia, als du dich im Klo eingeschlossen hast, warst du da allein? Und wen liebst du mehr, die Jungen oder die Mädchen? Und was
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