Seelensplitter: Thriller (German Edition)
abgehoben. Doch noch bevor Lina ihr Anliegen hätte unterbreiten können, war Pia ihr ins Wort gefallen und hatte unwirsch gesagt, Lina solle sie in Ruhe lassen, sie habe nichts mit alldem zu tun. Dann hatte sie aufgelegt. Lina hatte Pias Stimme angehört, dass sie Angst hatte. Angst zu sprechen? Angst, das nächste Mordopfer zu sein? Danach hatte Lina nur noch Pias Mailbox erreicht. Ihre Anrufe bei Christina waren bisher vergeblich, die hatte nicht einmal ihre Mailbox eingestellt.
Ihr knurrt der Magen, weil sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hat, und sie beschließt, im Thai-Imbiss eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Sie bestellt eine Portion Hühnchen mit Pilzen und Reis und setzt sich an einen freien Tisch.
Am Nebentisch versucht eine junge Frau, ihrem Kind das Essen mit Stäbchen beizubringen. Ein Hüne in blauer Arbeitskluft, die Hände in den Taschen, kommt herein, baut sich vor dem Tresen auf und geht die Liste der Gerichte durch. »Große Portion?«, fragt die Thailänderin und lacht den Mann verschmitzt an. Der nickt zustimmend, wobei sein wuchtiges Kinn wippt, und sagt: »Die 32, ich nehme die 32.« »Dreitausendzweihundert!«, ruft die Thailänderin dem Koch zu. »Megaportion, für großen Hunger!«, fügt sie dann noch hinzu.
Lina versinkt wieder ins Grübeln. Ihr kommt es so vor, als hätte sie heute ihrem Vater zum ersten Mal direkt und ohne jede Scheu ins Gesicht gesehen. Sie glaubt ihm, dass er keine Ahnung hat, woher sie kommt. Er hat ihr nichts vorgespielt, sondern ihr glaubhaft versichert, dass er ihr gern helfen würde. Es sei wohl richtig, dass ein Mensch seine Wurzeln kenne, hatte er zugegeben, doch es sei ihnen beim Amt gesagt worden, dass ihnen das Pflegekind jederzeit wieder weggenommen werden könnte und dass sie alles so belassen sollten. »Manchmal ist es besser, wenn die Vergangenheit im Dunkeln bleibt«, habe der Leiter des Jugendamtes mit Verschwörermiene gesagt, und daran hätten sie sich gehalten. Ihr Adoptivvater hatte sich ein paar Tränen aus den Augen gewischt und gesagt: »Aber vielleicht muss man erst wissen, bevor man vergessen kann.«
Trauriger alter Mann, denkt Lina. Du hättest eine ganz andere Tochter verdient.
Lina würzt ihr Essen mit eingelegten Peperoni und sieht durchs Fenster nach draußen auf die Straße. Fließender Verkehr. Gut so.
Was war aus ihrer guten alten Strategie des Nicht-Auffallens geworden? Sie hatte ihr bisher ganz gut durchs Leben geholfen. Jetzt hetzt sie durch die Stadt und versucht, das scheinbar unergründliche Puzzle ihrer Vergangenheit zusammenzusetzen. Ein komplettes Ganzes daraus zu machen. Ihr Leben. Und auch wenn es schlimm gewesen sein mag, so ist es doch ihr Leben.
Eines ihrer Handys klingelt. Che meldet sich.
»Vicky. Ausflug«, sagt er.
»Das chinesische Jahresrätsel«, antwortet Lina, die kurz erwägt, Che vom Besuch bei ihrem Vater zu erzählen, die Idee jedoch wieder verwirft.
»Noch interessiert? Oder kann ich mich wieder an das Verkaufen von Villen machen?«
»Mehr denn je …«, sagt Lina.
Völlig unvorbereitet wird sie von einem Gedanken getroffen, als würde ein Blitz einschlagen. Wie war Ralf eigentlich auf die Idee gekommen, das Kabel an der Schuppentür zu befestigen? Ralf hatte nie mit Strom herumexperimentiert. Wenn überhaupt, so war das ihr Steckenpferd gewesen.
»Lina?«, fragt Che.
»… bin wieder da«, sagt Lina. »Schieß los.«
»Ich habe mir diesen Woody-Allen-Film noch einmal angesehen …«
»… und bist auf eine weitere verschlüsselte Botschaft gestoßen«, sagt Lina ironisch.
»Unsinn. Diese beiden Filmheldinnen, Vicky und Cristina, machen einen Ausflug nach Oviedo.«
»Kenne ich nicht.«
»Liegt in Asturien, Spanien, Atlantikküste, ganz im Norden. Sehr grün, sehr schön, uraltes Städtchen.«
»Das sind doch reine Spekulationen«, wehrt Lina ab und beißt in einen frittierten Krabbenchip, der krachend in ihrem Mund zerbirst.
Che ignoriert ihren Einwand und sagt: »Ich habe ein wenig im örtlichen Telefonbuch von Oviedo herumgesucht. Rate, wer da drinsteht.«
»Der Prinz von Asturien«, sagt Lina.
»Fast. Ein Antiquitätengeschäft.«
»Nun mach es nicht so spannend.«
»Das Geschäft wird betrieben von einem gewissen S. Carlheim.«
»…«
»Lina? Hast du mich gehört?«
»Aber …«
»Dein Psychotherapeut hat sich nach Spanien abgesetzt, einen kleinen Laden aufgemacht und schreibt wahrscheinlich jetzt seine Memoiren. Wenn man das als Psychotherapeut überhaupt
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