Seelensplitter: Thriller (German Edition)
vergessen haben, ihn auszuschalten, als er rauswollte. Er hat ja gern rumgebastelt, obwohl wir ihm den Umgang mit Strom und Feuer strikt verboten hatten.«
»Ich wollte ihn umbringen!«, sagt Lina.
»Hast du aber nicht. Es war ein Unfall.«
Vor Linas Augen tanzen schwarze Kreise, dann sprühen Funken, in ihrem Kopf rauscht es. Sie darf jetzt nicht umkippen. Vor sich sieht sie auf einmal Ralfs hämisch lachendes Gesicht. »Ich gewinne immer. Du kannst mich nicht besiegen«, scheint er ihr zu sagen.
»Lina?«, hört sie wie aus weiter Ferne die Stimme ihres Adoptivvaters. »Willst du dich ein wenig auf die Couch legen?«
Sie schüttelt den Kopf und massiert sich die Schläfen. Vor ihrem inneren Auge nimmt plötzlich ein Zimmer Formen an. Ein Kinderzimmer. Auf einem himmelblauen Teppich liegen blutige Kindersachen. Ein Unterhemd, ein zerrissenes und mit Blutspritzern besprenkeltes rosa Kleidchen. Eine Dose mit weißer Creme, in der sich Blutstropfen sammeln.
»Du musst es mir sagen, Papa«, sagt Lina leise. »Was geschah vorher? Wo war ich? Bei wem bin ich aufgewachsen?«
E ins, zwei drei, ich hau die Hand entzwei. Mit dem Hackebeil, zack, zack, zack, und schon ist’s vorbei.
Es sind die feurigen Kreise auf meinem Rücken, die mir das vorsagen. Sie sagen: Wach auf, du Prinzessin. Du musst dein Reich verteidigen. Die Feinde rütteln schon am Tor zur Burg. Sie schwimmen durch den Graben. Sie kommen mit Pech und Schwefel, und die Ängstlichen sind auf der Flucht.
Eine Prinzessinnenpflicht hast du. Die darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Erstich deine Feinde, spieß sie auf, verbrenne sie. Haben sie erst die Burg gestürmt, ist dein Leben keinen Pfifferling mehr wert.
Dummer Junge. Du musst die Hand des stählernen Ritters drücken. Türklinke auf, Türklinke zu. Und schon bist du besiegt.
26
L ina verlässt das Haus ihrer Adoptiveltern. Sie taumelt mehr, als sie geht. Zugleich fühlt sie sich unendlich viel leichter, als hätte sie plötzlich mehr Platz in sich.
Ich habe ihn nicht getötet, denkt sie. Ich war es nicht. Ich war es nicht. Ich habe es gewollt, aber es war ein Unfall. Ralf ist mir selbst nach seinem Tod noch auf der Seele herumgetanzt. Aber nein, ich war es nicht. Ralf, jetzt musst du auch in meinem Kopf sterben. Endlich verschwinden.
Da sieht sie plötzlich die Frau. Sie steht am Ende der Straße und wartet. Sie ist es. Antje Kernel.
Als sie Lina auf sich zukommen sieht, dreht sie sich auf dem Absatz um, beschleunigt ihre Schritte und biegt um die Ecke, verschwindet aus Linas Blickfeld.
Sie sucht, denkt Lina, vielleicht sucht sie dasselbe wie ich. Eine Erinnerung, ein kleines Stück Gewissheit.
»Ich weiß nichts Genaueres über deine Herkunft«, hatte ihr Adoptivvater versichert.
Sie hatten sie in einem Krankenhaus abgeholt. Das Jugendamt hatte Irene Heise als biologische Mutter in die Papiere eingetragen. So ganz konnte auch ihr Adoptivvater das nicht glauben, schließlich war die Frau eine Nonne. Aber sie hatten sich so gefreut, sie in ihrer Familie zu haben.
»Wir wollten keinen Staub aufwirbeln.«
Sie bekamen mit, dass Lina in den ersten Monaten häufig Albträume hatte. Darüber gesprochen hatten sie mit ihr nicht. Es kam vor, dass die Pflegeeltern nachts in ihr Zimmer gingen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Dann stand Lina am Fenster und starrte in die Nacht hinaus, als würde sie nach etwas Ausschau halten. Sie hatten Lina gefragt, ob sie auf etwas oder jemanden wartete, doch Lina hatte nur stumm Kreise mit dem Finger auf die Scheibe gemalt.
Lina hatte sich das genaue Datum geben lassen, an dem sie in die Familie Andersen gekommen war. 1988 war das.
»Ralf ist am Tag des Mauerfalls gestorben«, hatte ihr Vater nachdenklich gemeint. »Deshalb saßen wir vor dem Fernseher und haben nicht rechtzeitig nach ihm gesehen.«
Sie hat bis heute mit ihrer Schuld gelebt, mit der Gewissheit, Ralf getötet zu haben. Und nun löst sich das alles auf. Jetzt muss doch etwas mit ihr passieren. Sie ist frei, plötzlich frei von Schuld, frei von Ralf. Sie ist keine Mörderin, sie hat mit einer Lüge gelebt. Ein Unfall. Doch trotz der spürbaren Erleichterung fühlt Lina sich nicht befreit. Irgendetwas anderes, etwas nicht Greifbares wirft noch immer seine Schatten bis in die Gegenwart.
Sie muss an diese Papiere herankommen, die Astrid in der Behörde aufgetrieben hat. Seit zwei Tagen versucht Lina, mit Pia und Christina zu sprechen. Beim ersten Anruf hatte Pia noch
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