Seelensplitter: Thriller (German Edition)
machst du mit ihnen, wenn du sie zu sehr liebst?«
25
E s muss sein. Heute.
Lina biegt in die kleine Seitenstraße ein und sieht ihren Adoptivvater, der mit hängenden Schultern auf sein Haus zugeht, klein, gebückt und mit einer Plastiktüte in der Hand.
Ich kann es nicht, denkt sie, doch sie verscheucht den Gedanken sofort. Wie oft hat sie schon vor Jahren vor dem Haus gestanden, sich vorgenommen, reinen Tisch zu machen. Jedes Mal war sie wieder umgekehrt. Hatte oft nicht einmal geklingelt.
Er hat ein Recht zu erfahren, was damals wirklich passiert ist, wie sein Sohn umkam und dass es ihre Schuld war. Und sie muss ihre Chance nutzen. Vielleicht wird er ihr nach ihrem Geständnis verraten, was er über ihre Herkunft weiß. Sie spürt einen Anflug schlechten Gewissens, weil sie mit ihrem Geständnis nicht nur Klarheit schaffen, sondern vor allem auch etwas erfahren will.
Sie raucht eine Zigarette und geht dann entschlossen auf das Haus zu, das bei Tageslicht noch heruntergekommener aussieht. Der Schuppen, in dem Ralf ums Leben kam, wurde bald danach abgerissen. Lina versucht, sich zu beruhigen, atmet ein paar Mal tief ein und aus. Dann geht sie zum Haus und läutet.
Es dauert ein wenig, bis er die Tür mit einem überraschten Gesichtsausdruck öffnet.
»Lina! Geht’s dir nicht gut?«
»Wir müssen reden, Papa«, sagt sie.
»Gibt es Einwände gegen einen Kaffee?«
»Nein«, sagt sie lächelnd.
Ihre Blicke streifen durch die Räume. Seit ihrem Auszug hat sich tatsächlich nicht viel verändert, stellt sie fest. Beim letzten Besuch war ihr das nicht weiter aufgefallen. Die Garderobe, Regale, Schränke, der kleine Küchentisch mit dem Deckchen … die Dinge sind dieselben, doch sie haben ihre Farbe verloren. Sie kommen ihr vor wie unscharfe Schwarzweißfotos in einem längst vergilbten Fotoalbum.
»Was hast du denn auf dem Herzen?«, fragt er, während er zwei Tassen auf den Tisch stellt.
»Es geht um Ralf.«
Seine Augen werden feucht.
»Lina, das ist lange her.«
»Aber es kommt immer wieder in mir hoch.«
»Das sollte wohl so sein«, sagt er und nimmt einen Schluck. »Kuchen habe ich nicht, aber möchtest du vielleicht einen Keks?«
»Ich … habe ihn getötet«, sagt Lina.
Ihr Vater sieht sie schweigend an und schüttelt bedächtig den Kopf.
»Das war damals auch für dich alles zu viel …«
»Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich habe Ralf umgebracht.«
»Unsinn.«
»Es ist kein Unsinn. Ich habe ihn umgebracht.«
Sie erzählt von Beginn an, von der Katze, die Ralf gequält hatte, weil er damit Lina strafen wollte, vom tragischen Tod der Katze und wie Ralf Lina daraufhin monatelang erpresste. Nur seine sexuellen Übergriffe, denen sie damals permanent ausgesetzt war, ließ sie aus.
»Ich wusste einfach nicht mehr, wie ich mich wehren sollte, ich war am Ende«, sagt sie. »Ich habe das Kabel am Regal befestigt und zu Gott gebetet, er möge entscheiden, ob Ralf es anfasst oder nicht. Ich war ein Kind. Ich hatte Angst, furchtbare Angst, von euch wieder wegzumüssen.«
Ihr Adoptivvater nickt stumm, denkt nach, steht auf und kehrt mit einem Karton in der Hand zurück, der mit schwarzem Seidenpapier beklebt und einem goldfarbenen Gummiband verschlossen ist. Er schiebt die Kaffeetasse beiseite, atmet hörbar ein und aus und öffnet dann mit einem leisen Stöhnen den Karton. Er zieht einen Kinderschal heraus, ein Paar Handschuhe und schließlich einen Packen Fotos, der ebenfalls mit einem Gummiband zusammengehalten ist. Er sieht sich die Fotos an, zieht eines heraus und zeigt es Lina.
»Die Fotos hat die Polizei gemacht. Da, das Regal mit dem Kabel daran.«
Lina betrachtet das Foto. Sie hat den Schuppen viel größer in Erinnerung.
»Ich war das«, sagt sie.
Ihr Vater schüttelt den Kopf und sagt: »Sieh mal genau hin.«
Lina versteht nicht, was er meint.
»Das Regal ist aus Holz. Holz leitet keinen Strom.«
»Aber …«
»Daran ist Ralf nicht gestorben. Als ich auf der Suche nach ihm die Türklinke von dem Schuppen runtergedrückt habe, bekam ich einen elektrischen Schlag. Verstehst du? Das Kabel war an der Türklinke befestigt. Die Polizei ist davon ausgegangen, dass er es selbst dort angebracht hat, um nicht gestört zu werden. Es war wohl gegen dich gerichtet. Er wollte nicht, dass du in seinen Schuppen kommst.«
Lina starrt verwirrt auf das Foto. Türklinke?, denkt sie. Wieso die Türklinke?
»Es war ein Mechanismus, der sich beim Schließen der Tür aktivierte. Er muss
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