Seelensplitter: Thriller (German Edition)
sehen alles. Wirklich alles. Wenn sie nicht gerade in den Mauern sind und arbeiten. Aber abends erkenne ich die huschenden kleinen Hügel, die sie auf der Tapete machen, wenn sie nach Hause zu ihren Frauen kommen.
»Du wirst mich heute untersuchen«, sagt der Schwarze Ritter. »Und du wirst mit deiner Hand überall hinfühlen. Auch dahin, wo die Sonne nie reinscheint.«
Dann zeigt er auf die Dose mit der weißen Salbe und sagt: »Das kommt später, mein Spatz.«
Er lacht. Aber scheint die Sonne nicht überallhin? Außer in das Reich der Zwerge, die hinter der Tapete leben?
Der Weiße Drache sagt, ich soll mir vorstellen, es ist ein Rohr, das bis tief in den Boden reicht. Und dann nimmt er meine Hand und drückt meinen Finger in den Blumentopf.
»Siehst du? So einfach geht das.«
Es tut weh, aber der Weiße Drache sagt, dass er mir das Fliegen beibringt. Schon bald. Und dann kann ich durch den Himmel und die Träume fliegen. Über alle Gefahren und Abgründe hinweg. Selbst dahin, wohin der Schwarze Ritter nicht kommt. Kilometerhoch und kilometerweit. Er bringt es mir bei. Er hat es versprochen.
Man muss nur einen Satz sagen, und dann schwingt man sich auf. Selbst wenn der Schwarze Ritter vor dir steht. Ich soll durchhalten, schon bald ist es so weit. Die Rote sagt, ich soll nicht tuscheln. Aber sonst hört mich der Weiße Drache doch gar nicht.
Der Weiße Drache hat mein Hemdchen genommen und die Blutflecken in ein Glas Wasser getaucht.
»Lernt man so fliegen?«, habe ich gefragt.
»Dummchen«, sagt der Weiße Drache. »Dazu gehört noch viel mehr, und ich werde es dir beibringen.«
Dann hat er das Wasser getrunken und gesagt, dass wir für immer verbunden sind.
»Dein Blut ist in meinem Bauch und in meinem Kopf. Für immer.«
35
G elbes Licht durchflutet den Hafen. Fähren bringen Menschen an das andere Ufer zum Musicalzelt. Ein vollgeladener Containerfrachter wird von einem Schlepper aus dem Hafen gezogen, hinter ihm noch ein Schlepper, der durch ein schlaff herunterhängendes Tau mit dem Frachter verbunden ist. Das Schiff verlässt langsam den Hafen. Lina kann am Heck den Namen lesen: »Green Acordia Panama«.
Kräne rasseln, weiter weg sind Getreideheber zu erkennen, die Weizen, Gerste und Roggen aus den Schiffsbäuchen pumpen.
Lina tastet nach der CD, die sie in die Innentasche ihrer Jacke gesteckt hat.
Sie überquert die Brücke, die von der U-Bahn-Station Landungsbrücken an die Anleger führt. Kioske und Andenkenshops sind gut besucht. In dicken Jacken sitzen die Leute an den Tischen und beobachten die Fähren, die in regelmäßigen Abständen am Anleger festmachen. Sie entlassen Menschengruppen auf den Pier und laden in Windeseile neue Fracht.
Am Zugang zur Brücke oben steht Isabel in schwarzem Anorak und blauen Jeans, über der Schulter eine Ledertasche. Es ist ablaufendes Wasser, deshalb muss Lina vom tief liegenden Ponton aus die Brücke hochgehen. Lina sieht sich um. Ist Che Ling in der Nähe? Es sind immerhin noch zehn Minuten bis zur vereinbarten Zeit.
»Lina«, sagt Isabel zur Begrüßung. »Das ist nicht meine Idee.« Sie zeigt auf eine Ecke des alten Gebäudes und sagt: »Ich muss dich abtasten.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Du musst keine Angst vor mir haben. Hier sind jede Menge Menschen.«
»Ich habe keine Angst. Wieso abtasten? Glaubst du, ich laufe hier mit meiner Dienstpistole auf?«
»Die wäre mir egal«, sagt Isabel. »Du bist nicht verkabelt? Was wir dir zu sagen haben, geht niemand sonst etwas an.«
Sie führt Lina in ein vor den Landungsbrücken aufgebautes Baustellenzelt und tastet dort ihren Oberkörper ab.
»Wie im Krimi«, sagt Isabel und besteht darauf, einen Blick in Linas Handtasche zu werfen.
»Habe ich bestanden?«, fragt Lina sarkastisch, nachdem Isabel sie durchsucht hat.
Isabel ignoriert ihre Frage.
»Wir gehen rüber zur Cap San Diego. Dort warten die anderen.«
Das Museumsschiff ist an einem der Anleger fest vertäut.
»Du kannst mir glauben, da ist wirklich was aus dem Ruder gelaufen. Es war …« Isabel unterbricht sich.
Sie kommen an einem Maschinenteil vorbei, das ursprünglich in eines der großen Containerschiffe eingebaut werden sollte und nun wie ein Denkmal hier steht. Cap San Diego, denkt Lina. Weißer Schwan der Südsee wurde der Frachter genannt, der in den 1960er Jahren vor allem Bananen transportiert hat. Was allerdings ein Schwan in der Südsee zu suchen hatte, war für sie immer ein Rätsel geblieben.
Sie überqueren die
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