Seelensturm
anderen Zeit«, erzählte er gedankenvoll und diesmal sah ich, wie sich seine Gesichtszüge veränderten. Ein Schleier legte sich um seine Augen. Ich hoffte, nicht allzu schmerzliche Erinnerungen in ihm wachgerufen zu haben. »Ich war verheiratet mit ihr. Sie starb und unsere Tochter mit ihr.«
»Oh, das tut mir leid«, brachte ich hervor. Jetzt verstand ich auch die Traurigkeit, die er ausstrahlte. Jedoch wollte ich nicht näher darauf eingehen. Als die Pause zwischen uns unerträglich wurde und er offensichtlich in Gedanken immer noch bei seiner Frau war, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen.
»Würden Sie mir helfen, meinen Onkel dazu zu überreden, mit Amy zu fliehen?«
Sofort war seine Aufmerksamkeit wieder bei mir und er sah mich erstaunt an.
»Wenn er mit Amy geht, dann haben sie eine reelle Chance, den Taluris zu entkommen. Ich könnte sie mit Ihrer Unterstützung ablenken. Wir könnten so tun, als wäre ich ihr gesuchtes Opfer. Bis dahin wäre Amy in Sicherheit.«
Lange sah er mich an, bis er schließlich einen Schluck seines Tees nahm.
»Ich weiß, was ich da sage, aber es wäre doch möglich, dass mein Plan funktionieren könnte, oder nicht?«
Er nahm einen weiteren Schluck und grinste kopfschüttelnd.
Was war so witzig? Wahrscheinlich nahm er mich nicht ernst.
»Mr. Chang, ich meine das wirklich ernst. Es geht hier um das Leben meiner Schwester und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich dabei sterben könnte und gerade deshalb brauche ich Ihre Hilfe.«
Sein Lächeln erstarb und jetzt sah er mich vollkommen verdutzt an.
»Du bist verrückt, Mädchen!«
»Wieso? Sie selbst haben gesagt, dass es wichtig ist, dass sie überlebt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas zustoßen würde, daher sehe ich das als die einzige Möglichkeit«, brachte ich hervor.
»Jade, deine Liebe zu deiner Schwester ehrt dich, doch ... ich kenne dein Geheimnis.«
Weit riss ich meine Augen auf und sah ihn erstaunt an. Woher wusste er es? Wodurch hatte ich mich verraten?
»Keine Angst, ich werde es niemandem sagen. Doch es wundert mich, dass dein Onkel noch nicht selbst darauf gekommen ist.«
Ich verstand nicht genau, was er meinte. Wusste er, dass auch aus mir die Farben meiner Aura strahlten? Oder, dass sich diese seltsamen Zeichen auf meiner Haut bildeten, oder dass meine Wunden innerhalb weniger Stunden heilten? Welche der Verrücktheiten meinte er genau?
»Was meinen Sie?«, flüsterte ich.
»Du brauchst keine Angst zu haben, eigentlich hätte Mr. Lewis selbst darauf kommen können, da ihr Zwillinge seid. Es ist naheliegend, dass du auch in der Lage bist, die Farben zu sehen.«
Erleichtert ließ ich mich gegen die Stuhllehne fallen. Mr. Chang kannte nur dieses Geheimnis. Und das war auch gut so.
»Habe ich recht?«, bohrte er weiter. Nickend bestätigte ich seine Frage und es war noch nicht einmal eine Lüge.
»Aber woher wissen Sie das?«
Unser ganzes Leben konnten Amy und ich es für uns behalten. Nie war uns jemand auf die Schliche gekommen. Obwohl meine Schwester es Onkel Finley schon früher einmal verraten hatte, konnte ich mich nicht erinnern, dass er mich je etwas in diese Richtung gefragt hatte oder sich sonst irgendetwas hatte anmerken lassen. Und Mr. Chang hatte nur wenige Monate gebraucht, um es herauszufinden? Er antwortete nicht, grinste stattdessen. »Noch etwas Tee?«
Ich hatte das Gefühl, dass er mich nach wie vor nicht ernst nahm, deshalb startete ich einen weiteren Versuch.
»Bitte, Mr. Chang, Sie müssen mir helfen. Meine Schwester muss mit Onkel Finley von hier verschwinden.« Ich lehnte mich ein Stück über den Tisch und sah ihn bittend an.
»Das ist reiner Selbstmord, Jade. Du kannst nicht hier bleiben und dich den Taluris in den Weg stellen. Sie würden dich sofort zermalmen. Sowieso ändert die Tatsache, dass du ebenfalls eine Illustris bist, alles«, meinte er. Er verschränkte die Arme und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Jade, du willst dein Leben für deine Schwester opfern, das kann ich nicht zulassen«, versuchte er, mich zur Vernunft zu bringen.
»Und wenn ich Ihnen sage, dass ich glaube, dass ich dazu bestimmt bin?«
Gerade wollte er etwas erwidern, sagte jedoch nichts und sah mich abschätzend an.
»Mr. Chang,« drang ich weiter in ihn, »seit ich denken kann, passe ich schon auf meine Schwester auf. Manchmal ist sie störrisch wie ein Esel, aber ich weiß, dass sie lieber gestern als heute gegangen wäre. Ich bin bereit, mein Leben für sie zu opfern.
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