Seelensturm
Steg. Im Grunde wusste ich, dass sie jemanden brauchte, mit dem sie sprechen konnte. Sie protestierte nicht, als ich mich zu ihr setzte.
»Ich weiß, dass das nicht leicht zu glauben ist. Aber alles, was Onkel Finley und ich dir gesagt haben, ist wahr, Amy. Das hat mit Alegra nichts zu tun«, sagte ich leise. »Ich wünschte, es wäre wirklich alles ihre Schuld, dann wäre es wirklich einfach, aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen. Aber leider liegt das Problem ganz woanders und ...«
»Wie kannst du dir da so sicher sein? Ich meine, ist dir klar, was ihr da behauptet?«
Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, doch ich spürte deutlich ihre Skepsis, die auch nicht verwunderlich war.
»Überleg doch mal. Könnte es nicht sein, dass das der wahre Grund ist, warum Onkel Finley uns so wenig Freiheiten gibt? All die Jahre, die wir nie alleine das Haus verlassen durften? Egal wie sehr wir ihn angebettelt hatten? Nie gab er nach. Und auch das Kampftraining, wieso wollte er unbedingt, dass wir lernen, uns zu verteidigen? Wieso verlangt er das von uns, wenn nicht nur aus dem Grund, dass er uns damit schützen will. Und das allerwichtigste, wieso können wir beide unsere Gefühle sehen? Niemand kann das. Das ist nicht normal, Schwesterchen. Hast du dich das selbst nie gefragt? ... Dann der Unfall gestern und die anderen merkwürdigen Dinge.«
»Was für merkwürdige Dinge?«, fragte sie und jetzt hörte ich Interesse in ihrer Stimme. Kurz zögerte ich, doch dann besann ich mich darauf, ihr die Wahrheit zu erzählen. »Es gab ein paar merkwürdige Zwischenfälle, die ich dir nicht erzählt habe. Ich hatte in den letzten Tagen ein paar seltsame … Begegnungen. Erst als ich merkte, dass unser Onkel größere Geheimnisse vor uns hat und ich ein Gespräch belauschen konnte, war er endlich bereit, mir die Wahrheit zu sagen. Onkel Finley, Mr. Chang und auch Mr. Tramonti erzählten mir diese Sache mit den Taluris und erst dann begann ich zu begreifen, wie ernst die Lage ist«, berichtete ich ihr leise. Ich sollte vermeiden, dass Tom meine Worte mitbekam. Im Dunklen sah ich kurz zu ihm, wie er sich mit Mr. Chang an der Sprossenleiter unterhielt. Amy überlegte und ich hoffte, sie könnte ihre Zweifel an Onkel Finley, Alegra und mir loswerden.
»Erzähl mir mehr davon!«
»Ich verspreche dir, alles zu erzählen, aber lass uns bitte nach Hause gehen. Wir sollten uns in Sicherheit bringen.«
Sie sagte nichts und überlegte. Endlich setzte sie sich auf und sah mich an.
»Dann ist das wirklich wahr? Aber ...?«
Es war schwer, das alles zu begreifen, doch endlich schien ihr das wohl alles einzuleuchten und ich war sehr froh darüber. Anfangs hatte ich auch meine Zweifel. Doch jetzt wusste ich, dass es die Wahrheit war.
Ich hielt inne und deutete ihre Gefühle. Doch diesmal kitzelte mich nichts. Konnte sie etwa auch die Gefühle, die ich gespürt hatte, abstellen? Ich fühlte nichts mehr. Nur meine eigenen erleichterten und hoffenden Emotionen strömten farbig aus mir.
»Und Onkel Finley? Er ist bestimmt mächtig böse auf mich, weil ich abgehauen bin.« So konnte sie es auch nennen. Trotzdem glaubte ich, dass er zuallererst erleichtert sein würde, sie unverletzt und halbwegs munter wiederzuhaben.
»Lass das mal meine Sorge sein. Ich rede mit ihm. Trotzdem wirst du ihm erklären müssen, wie du es geschafft hast, das Grundstück zu verlassen, ohne den Alarm auszulösen.«
Amy nickte, dann drangen Stimmen aus dem Wald zu uns. Unser Onkel und die Sicherheitsleute würden jeden Augenblick auf dem Spielplatz ankommen. Ich hoffte nur, dass er nicht allzu sauer auf mich reagieren würde, schließlich hatte ich mich auch nicht ganz an seine Anordnung gehalten. Jetzt konnte ich die Taschenlampen erkennen, die sich uns näherten.
»Sie sind da. Wir sollten jetzt gehen«, sagte ich zu ihr und während ich mich erhob, berührte Amy meine Schulter.
»Entschuldige, dass ich dich so angeschrien habe. Ich wollte …!« Erst jetzt erkannte ich ihre geschwollenen Augen und ihre gerötete Nase. Sie hatte viel geweint. Sie sah mich an und ich wusste, dass es ihr wirklich leid tat. Ihr Stolz hatte sie wieder einmal in eine gefährliche Situation gebracht. Doch in Zukunft würde sie lernen müssen, darauf zu achten, denn eine Fehlentscheidung könnte ihren Tod bedeuten.
Wir liefen zusammen den Holzsteg entlang zur kleinen Sprossenleiter und kletterten nacheinander hinunter. Knackend gab das Holz unter meinem Gewicht nach und ich
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