Seelensunde
vergeblich gesucht hatte. Ein Reaper. Was wollte er? War er hier, um sie zu töten? War das der Fall, gab es für sie kein Entrinnen. Sie war zwar schnell und kampferprobt, aber weder stark genug, um ihn zu töten, noch schnell genug, um zu fliehen. Soverharrte sie regungslos, als er sich ihr näherte. Seltsam nur, dass er sie dann nicht gleich getötet hatte, nachdem er hier aufgetaucht war oder nachdem sie Butcher erledigt hatte. Oder schon am Abend vorher, als sie sich im Nachtklub begegnet waren. Vielleicht aber hatte er dort erst etwas erfahren, das ihn auf ihre Fährte gesetzt hatte.
Sie hielt den Atem an. Er ging jedoch nicht auf sie zu, sondern trat an das offene Grab. Dort bückte er sich, hob den Spaten auf und drehte sich wieder zu ihr um. Seine Augen waren … grau? Oder blau? Sie konnte es in dem spärlichen Licht und aus der Entfernung nicht erkennen.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagte er und hielt ihr den Spaten hin.
Was sollte ihr etwas ausmachen?
„Sie erwarten doch sicherlich nicht von mir, dass ich da hinabsteige, so wie ich angezogen bin?“ Sein Tonfall verriet, dass es mehr war als nur eine freundliche Bitte.
Aber was wollte er von ihr? Dass sie sich ihr eigenes Grab schaufelte, in dem er sie dann versenken konnte?
Alastor Krayl machte eine ungeduldige Handbewegung. „Ich hätte es bestimmt nicht nötig, dich zu begraben, mein Kätzchen“, beantwortete er die Frage, die sie gar nicht ausgesprochen hatte. Anscheinend konnte er Gedanken lesen.
„Unterstehen Sie sich, mich noch einmal Kätzchen zu nennen, Sie Idiot.“
Er lächelte ungerührt. Sein Blick war so kalt, dass sie fast erstarrt wäre.
„Du bist ein ziemlich naseweises kleines Mädchen, mein Kätzchen , findest du nicht?“
Er wollte sie provozieren. Aber da würde er sich täuschen. Kätzchen hatten Krallen, Zähne und manchmal auch schlechte Laune. Die würde sie ihm schon zeigen, wenn sie noch Gelegenheit dazu bekam.
Plötzlich stand er dicht vor ihr. Naphré wusste nicht einmal, wie er dahin gekommen war. Manche seiner Bewegungen wareneinfach zu schnell für das menschliche Auge. Trotzdem zeigte Naphré sich unbeeindruckt. Wenn er sie einschüchtern wollte, musste er sich etwas Besseres einfallen lassen. Unbewegt hielt sie seinem Blick stand. Seine Augen waren blau. Das konnte sie jetzt erkennen. Schöne Augen – mit dichten, geschwungenen Wimpern und einer unbeschreiblichen Farbe, etwas zwischen Türkis und Lapislazuli. Sie erinnerte Naphré an die Halsketten, die ihr ihre Mutter vor Jahren geschenkt hatte. Wedjet hatte ihre Mutter die Farbe genannt, was in etwa so viel bedeutete wie ägyptisch blau oder das Auge des Ra. Naphré besaß die Halsketten noch, aber sie trug keinen Schmuck. Wahrscheinlich weil ihre Mutter so gern welchen trug.
„Wenn ich dich töten wollte, wärst du schon tot“, fügte er leise hinzu. „Aber dann würde ich dich so liegen lassen, wie du bist. Ich brauche meine Spuren nicht zu verwischen so wie du. Die menschlichen Gesetze betreffen mich nicht.“
Hatte er damit nicht sogar mehr verraten, als er eigentlich gewollt hatte? Das Wichtigste war, dass er vorhatte, sie fürs Erste am Leben zu lassen. Das war beruhigend. Darauf konnte man sich einigen.
„Was genau wollen Sie dann von mir?“, fragte sie.
Ein Grübchen erschien in seiner linken Wange, als er lächelte und seine makellos weißen Zähne entblößte. „Ich möchte, dass du den Knaben da unten, den du gerade eingebuddelt hast, wieder ausgräbst.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Er hat etwas, das ich gern hätte.“
Sie griff in ihre Tasche und holte Butchers Brieftasche, sein Handy und die Autoschlüssel hervor. „Bitte schön. Ich habe ihm schon sämtliche Taschen geleert. Außer ein bisschen Kleingeld ist da nichts mehr.“
Er sah sich die Sachen nicht einmal an. „Darum geht es mir nicht. Das ist nicht, was ich brauche.“
„Was denn dann?“
Zwei steile Falten zeigten sich über seiner Nasenwurzel. Erschien sich über die Frage eher zu wundern, als zu ärgern. Er stellte einen Fuß auf das Spatenblatt und legte die Hände locker über den Griff. Gepflegte Hände mit langen, kräftigen Fingern. „Es ist möglich, dass er etwas gesehen hat, und ich möchte gern mehr darüber wissen.“
Jetzt war es Naphré, die spöttisch lächelte. „Er wird nicht mehr viel sagen können. Er ist tot.“
„Seine Schwarze Seele hat eine Menge zu erzählen“, antwortete Alastor Krayl milde. Sein Ausdruck wurde
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