Seelensunde
eigenartiger Akzent. Engländer? Australier? Südafrikaner? Jedenfalls nicht von hier.
Ihr Gefühl hatte sie also doch nicht getrogen. Jemand hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Allerdings hatte sie vorher nichts von dieser Spannung bemerkt, die jetzt auf ihrer Haut prickelte wie eine elektrische Ladung und eine Atmosphäre verbreitete wie eine leichte Brise, die den Sturm ankündigt. Die Stimme hatte vermutlich recht. Die Glock nützte ihr gar nichts. Diese Stimme gehörte keinem menschlichen Wesen. Vielleicht traf die Kugel ihr Ziel, aber sie würde ihn nicht töten, ihn wahrscheinlich nicht einmal aufhalten.
Naphré gefiel das alles überhaupt nicht. Es gab nichts zu sehen als nächtliche Schatten, in denen sich der Unbekannte verborgen hielt. Im Schatten irgendeines dieser Grabmonumente musste er stehen, aber in welchem?
„Kommen Sie heraus, damit ich Sie sehen kann!“, rief sie.
„Nein, nicht doch. Noch nicht.“ Sein dunkles Lachen kam von irgendwo hinter den Grabsteinen. „Warum kommen Sie nicht heraus und zeigen sich?“
„Nein, nicht doch“, äffte sie ihn nach. Allmählich begann sie sauer zu werden.
Wieder dieses Lachen. Es klang nicht fröhlich oder heiter, eher bedrohlich. Etwas schwang darin mit, das an ihren Nerven zerrte und sie aggressiv machte. Aber sie hielt sich im Zaum. Sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren.
„Dann nicht. Macht auch nichts. Ich kann im Dunkeln ausgezeichnet sehen.“
Na klar. Sie hatte es geahnt.
Wer oder was war dieser Kerl? Einer von Xaphans Leuten?
Nein. Die waren alle weiblich, es sei denn, Xaphan hatte jemanden angeheuert, der nicht zu seiner Truppe gehörte.
„Was bist du? Irgend so ein Halbgott?“ Sie musste etwas über ihn herausbekommen, bevor sie sich ihm stellte, sonst konnte es sehr gefährlich werden.
„Nicht ganz.“ Nicht nur sein Akzent, auch seine Ausdrucksweise war bemerkenswert kultiviert. Offenbar hatte er eine gute Bildung genossen. Seine letzte Antwort hatte Naphré geholfen, den Sprecher ein Stück weiter bei einem Grabmal zu orten. Ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln war dort zu erkennen, der ihr jetzt aber auch nicht helfen konnte.
„Was bist du dann? Ein gedungener Killer, oder was?“
„So könnte man es beinahe nennen.“ Die Frage schien ihn zu amüsieren.
Das Knistern in der Atmosphäre nahm zu. Wie hatte er es geschafft, seine Ausstrahlung so zu unterdrücken, dass sie sie nicht früher bemerkt hatte, wenn er wirklich schon längere Zeit in ihrer Nähe gewesen war? Naphré wurde es immer unheimlicher.
„Ich habe keine Lust zu diesen Spielchen“, sagte sie trotzig. Sie steckte ihre Glock zurück in den Halfter, während sie weiter ins Dunkle starrte, das ihn verbarg. Endlich sah sie ein Paar Augen aufblitzen.
„Was denn, schon gelangweilt?“ Er trat aus dem Dunkeln hervor. „Da hat ja selbst eine Fliege mehr Ausdauer.“
Naphré hätte ihm gern eine passende Antwort an den Kopf geworfen. Aber sie war zu perplex. Der Mann, der vor ihr auftauchte, war derselbe, der ihr in der Tür des Nachtklubs begegnet war.
Der Mond kam hinter den Wolken hervor und warf einen Schimmer auf sein blondes, kurz geschnittenes Haar, das ihm vorn etwas länger ins kantige Gesicht fiel. Er war groß gewachsen, knapp einen Meter neunzig, schätzte sie. Teurer Maßanzug, weißes Hemd, offener Kragen. Er trug eine gewisse lässige Eleganz zur Schau, die Naphré aber nicht über die Gefahr hinwegtäuschen konnte, die von ihm ausging. Sie konnte selbst nicht begreifen, wie sie ihn gestern Abend für einen Sterblichen hatte halten können, aber langsam dämmerte es ihr. Kein Sterblicher, auch kein Dämon oder Halbgott. Er war jemand, der sich ungehindert unter den Sterblichen bewegen und seine übernatürliche Ausstrahlung verbergen konnte. Da blieben nicht viele Möglichkeiten. Mist. „Du bist ein Reaper, ein Seelensammler.“
Er neigte leicht den Kopf. „Messerscharf kombiniert“, meinte er spöttisch.
„Ich habe wirklich keinen Bock auf Sie und Ihre idiotischen Scherze!“
„Ich hatte schon Bock auf Sie, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Und ich bin entzückt, dass wir uns hier wiedersehen.“
Naphré war perplex bei so viel Unverfrorenheit, aber sie hatte sich schnell wieder im Griff. „Blödmann“, zischte sie.
„Nein, falsch“, widersprach er. „Der Name ist Krayl, Alastor Krayl.“ Er deutete eine förmliche Verbeugung an und musterte sie aufmerksam.
Naphré stockte der Atem. Krayl . Das war es, wonach sie
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