Seelensunde
als für Sutekh hegte, denn Osiris brachte seiner Schwester und Gemahlin Isis wenigstens ein gewisses Maß an Respekt und Achtung entgegen.
„Herrin“, meldete sich hinter ihr eine ihrer Dienerinnen flüsternd zu Wort, „wenn der Reaper wirklich aus Unwissenheit gehandelt hat und die Kränkung unabsichtlich geschah, vielleicht wäre es zu Eurem Besten, auf eine Vergeltung zu verzichten.“ Nach einer Pause fügt sie ängstlich hinzu: „Das Treffen der Großen der Unterwelt wird in weniger als zwei Wochen stattfinden.“
Izanami, die es gewohnt war, Probleme unvoreingenommen von allen Seiten zu beleuchten, ließ die Dienerin ausreden und erwiderte dann ruhig und sachlich: „Die Seele von Crandall Butcher gehört mir. Er wurde nach meinem Ritus begraben und hielt in den Händen die Münzen als Fährgeld. Oder bist du anderer Meinung?“
„Nein, Izanami-no-mikoto.“
Bei aller Unterwürfigkeit in dieser Antwort war Izanami doch nicht das Zögern ihrer Dienerin entgangen, und sie hörte deutlich heraus, was diese unausgesprochen gelassen hatte, weil sie fürchtete, ihre Grenzen zu überschreiten.
„Crandall Butchers Herz und seine Seele, die beide nicht ihm gehörten, hat mir Sutekhs Seelensammler genommen. Wenn ich das mit Schweigen übergehe, stehe ich vor meinem Feind als Schwächling da.“ Wieder sprach Izanami in ruhigem, sanftem Ton. Sie wusste, dass der Zorn, der sie erfüllte, nicht ihrer jungen Untergebenen gebührte – vielleicht nicht einmal jenem Seelensammler –, sondern in erster Linie Sutekh selbst. „Du kannst freimütig und ohne Furcht deine Meinung sagen. Soll ich den Anspruch auf diese Seele fallen lassen?“
„Nein, Izanami-no-mikoto.“
„Was dann? Die Sache vertagen und ihn erst später geltend machen?“
„Die Seele ist Euch gestohlen worden, und Ihr allein habt Anspruch darauf. Aber anstatt die Donnergötter zu versammeln und den Kampf zu wagen, könntet Ihr jemanden aussenden, um Sutekh um das zu bitten, was Euch gehört.“
Ihn bitten. Was für eine aparte Idee.
„Auf dem diplomatischen Weg?“ Izanami dachte nach. Der Vorschlag hatte etwas für sich. Ein offener Konflikt würde Sutekh, der auf dem Gebiet der Gewalt und Niedertracht zu Hause war, tatsächlich nur in die Karten spielen. Er erwartete nichts anderes. Trat man ihm aber so entgegen, wie das Mädchen es gemeint hatte, würde man ihm keine Angriffsfläche bieten. Und das brächte ihn erst recht zur Weißglut.
Die Mission konnte sich allerdings leicht als Himmelfahrtskommando entpuppen. „Gibt es Freiwillige?“, fragte Izanami.
Unterwelt, Sutekhs Reich
Auf der in den Sandstein gehauenen Galerie blieb Alastor stehen. Er konnte noch immer nicht fassen, was in ihn gefahren war. Nachdem er seinen Auftrag erfüllt und die Schwarze Seele an sich genommen hatte, hätte er Naphré einfach allein lassen sollen, während sie die Leiche ein zweites Mal begraben hatte. Stattdessen hatte er weiter auf dem Friedhof herumgelungert, beobachtet, wie die Setnakht-Priesterin aus ihrer Deckung gekommen war, registriert, wie Naphré sie bemerkt hatte … Spätestens dann, als deutlich gewesen war, dass Naphré seine Hilfe nicht benötigte, hätte er verschwinden können. Stattdessen war er ihr bis zu ihrer Wohnung gefolgt. Er hatte absolut keine Erklärung dafür, warum er das getan hatte.
Butchers Schwarze Seele taumelte noch immer in Schulterhöhe neben ihm. Manchmal stieg sie träge ein Stück höher wie eine Wasserleiche in einem seichten Tümpel. Manchmal sank sieein Stück ab und berührte Alastor am Arm. Noch durch sein Jackett und sein Hemd hindurch spürte er ihre feuchte Kälte, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Im Schatten einer Säule verborgen, beobachtete Alastor die Schlange der Wartenden in der Vorhalle unter ihm. Die Reihe der Bittsteller wälzte sich durch den ganzen riesigen Raum und verlor sich irgendwo in den Dünen der Wüste. Es waren Seelen Sterblicher, die nach ihrem irdischen Dasein ihren Platz suchten, sowie mindere Gottheiten, die Sutekh um irgendeine Gunst bitten wollten.
Alastor fragte sich, ob die Seelen wohl wussten, welchen Preis sie dafür zu bezahlen hatten. Den meisten wurde der Zutritt zu Sutekhs Reich verwehrt, und sie wurden zu den Feuerseen geschickt. Das waren noch die Glücklicheren von ihnen.
Die weniger Glücklichen ließen sich von Sutekhs schöner Erscheinung blenden, die der Gott sich nach Belieben aussuchen konnte und die er täglich wechselte. Er winkte
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