Seelensunde
Er war der Ansicht, er schuldete keine. Abgesehen davon hätte er auch keine vorbringen können. Er wusste nicht einmal selbst, was ihn auf dem Friedhof festgehalten oder was er unter Naphrés Fenster zu suchen gehabt hatte. Sie hatte etwas an sich, dasihn faszinierte. Er schaute sie gern an. Es machte ihm Spaß, sie ein wenig zu ärgern oder sich Wortgefechte mit ihr zu liefern. Als sie sich aus dem Fenster gebeugt und er ihren rosa Pyjama gesehen hatte, hatte er lächeln müssen und sich vorgestellt, ihr die Jacke aufzuknöpfen … Ohne Zweifel fühlte er sich von ihr körperlich angezogen. Und doch war da noch mehr. Er war noch lange nicht mit ihr fertig.
„Du hast die Geduld eines Heiligen“, sagte Alastor, wobei er sich bewusst war, dass Sutekh der leicht ironische Unterton nicht entging. Obwohl Sutekh nicht mit der Wimper zuckte, merkte Alastor mit einer gewissen Befriedigung, dass die Unverschämtheit seinen Vater wurmte. Er legte seine Ledertasche ab, öffnete sie und offerierte Sutekh die Schwarze Seele.
Sein Vater rührte sich nicht von der Stelle, sondern verzog nur angewidert das Gesicht. „Das stammt von einem Toten“, sagte er vorwurfsvoll.
„Stimmt. Aber trotzdem … Darf ich vorstellen? Das hier ist Crandall Butcher. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er etwas über Lokans Ermordung sagen kann. Er scheint in jener Nacht etwas gesehen zu haben.“
„Das glaubst du.“ Sutekh hob den Kopf mit der Grazie eines Dinosauriers. „Meinetwegen. Sprich weiter.“
Alastor blickte sich im Garten um. „Gar keine Sicherheitsbedenken heute?“
„Hier hat inzwischen eine Säuberungsaktion stattgefunden“, antwortete Sutekh mit einem eisigen Lächeln.
Die Bemerkung bedurfte keiner weiteren Erläuterung. Alastor wusste, was gemeint war. „Und? Irgendwelche schlüssigen Beweise gegen weitere Verräter?“
„Beweise? Mir genügt da der bloße Verdacht.“
Typisch für ihn. Sutekh war rigoros. Wer immer auch nur den geringsten Anhaltspunkt mangelnder Loyalität aufwies, wurde aus dem Weg geräumt. Und so hatte er alle, die als Gahijis Verbündete entfernt infrage gekommen waren, eliminiert. Manche hatten schon lange vor Alastors Geburt vor dreihundertJahren in Sutekhs Diensten gestanden, egal ob es einfache Bedienstete oder Getreue aus der Garde der Seelensammler gewesen waren. Jahrhundertelange Treue zählte nichts. Sutekh hatte sich all ihre Seelen einverleibt, und es hatte weder eine Anklage noch Richter gegeben.
„Was ist mit diesem Crandall Butcher?“
„Ich bin überzeugt, dass er Zeuge bei Lokans Ermordung gewesen ist.“
„Sagtest du schon. Also was war er? Zeuge? Mittäter oder Täter?“
„Ich habe keine Lust auf bloße Vermutungen. Sieh selbst in seine Schwarze Seele. Das wäre doch das Einfachste.“
„So einfach ist das auch nicht. Die Seele stammt von einem Toten. Seine Erinnerungen könnten verfälscht sein. Oder ausgelöscht.“ Um das herauszubekommen, musste Sutekh die Schwarze Seele erst verschlingen. Das war die einzige Möglichkeit. Sobald er das tat, waren Butchers Erinnerungen für ihn so zugänglich, als wären es seine eigenen. „Hast du nichts Besseres anzubieten?“ Sutekh gab sich keine Mühe, den Hohn in seinen Worten zu verbergen. Das war seine Methode, Alastor für seine Unbotmäßigkeit zu strafen.
Alastor schluckte seinen Ärger hinunter, wusste aber auch, dass sein Vater merkte, wie schwer ihm das fiel. Er bebte innerlich vor Wut.
„Lass die Emotionen heraus“, forderte Sutekh ihn in freundlichem Ton auf, was Alastor jedoch nur veranlasste, die Zügel noch fester anzuziehen. Sutekh liebte diese Spielchen. Alastor war nicht in der Stimmung, sich darauf einzulassen.
„Ich kann dir sagen, was ich darüber denke“, entgegnete er kühl. „Wir haben bisher nur zwei Zeugen. Aber die haben sich als unbrauchbar erwiesen.“
„Frank und Joe Marin, ich weiß“, warf Sutekh halblaut ein.
„Frank war definitiv Zeuge von Lokans Ermordung. Er hat es Roxy gegenüber zugegeben.“ Sutekhs Miene verfinsterte sich, als er den Namen von Dagans Freundin hörte, doch Alastorkümmerte sich nicht darum. „Wir wissen auch, dass er die Wahrheit gesagt hat, weil seine Beschreibung von der Tätowierung auf Lokans Brust korrekt ist.“ Lokans Mörder hatten die reizende Idee gehabt, Lokan die Haut von der Brust zu ziehen, sie auf einen Rahmen zu spannen und sie dann Sutekh als „Geschenk“ zuzuschicken. „Frank sagte auch, dass er Lokan noch lebend gesehen hatte, dass
Weitere Kostenlose Bücher