Seelensunde
Haut oder bloß die Knochen eines Skeletts waren, konnte man nur erraten.
Etwas wie sie hatte Alastor noch nie gesehen. Unbeirrt strebte die gruselige Gestalt weiter dem Eingang von Sutekhs Gemächern zu, der von sechs Wächtern aus Sutekhs Leibgarde bewacht wurde, Seelen, die sich ihre baldige Beförderung zur Legion der Seelensammler erhofften. Eine trügerische Hoffnung, wie Alastor wusste, denn ihre leiblichen Hüllen waren längst verrottet. Nur hier in der Unterwelt war es ihnen noch möglich, in menschlicher Gestalt zu erscheinen, was sie für die Aufgaben eines Seelensammlers, der imstande sein musste, zwischen beiden Welten zu wandeln, gänzlich ungeeignetmachte. Aber wie hieß es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und so erledigten die Mitglieder dieser Garde ihre Aufgabe mit Ehrgeiz und Hingabe und bemühten sich, jeden Augenblick so hart und unerbittlich wie möglich aufzutreten. Alastor war gespannt, was geschehen würde, wenn die Madenfrau bei ihnen ankam. Er war sicher, dass sie abgewiesen und ans Ende der Schlange zurückgeschickt werden würde.
Sutekhs Audienzsaal war wie der restliche Palast aus Sandstein gebaut. Der gewaltige Raum war links und rechts von Säulenpaaren flankiert, die mit farbenfrohen Bildern, Szenen aus dem Nildelta, verziert waren. Sonst war der Saal kahl und nahezu leer. Als Alastor ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sich gefragt, ob Sutekh den Schmuck aus einer gewissen Sentimentalität heraus hatte anbringen lassen, als Erinnerung an die Zeit, da er selbst noch an den Ufern des Nils gewandelt war. Aber er hatte seinen Vater nie direkt darauf angesprochen. Anfangs hatte er die Frage nicht gestellt, weil er Sutekh gegenüber noch unsicher gewesen war. Heute interessierte sie ihn nicht mehr.
Als Alastor den Saal durchschritt, passierte er die Nische, in der einige Sessel aus Zedernholz und auf einem erhöhten Podest ein vergoldeter Thron standen. Sein Blick fiel auf den leeren Fleck hinter dem Thron, auf dem früher ein weiterer Sessel gestanden, den Sutekh aber hatte entfernen lassen. Hier zu Sutekhs Rechten war Lokans Platz gewesen. Von hier aus hatte der jüngste der Brüder die Geschäfte seines Vaters aufmerksam und lernbegierig verfolgt. Lokan konnte sich für die politischen Ränkespiele der Unterwelt begeistern. Jetzt war er tot, und der Anblick seines leeren Sessels war unerträglich geworden.
Am anderen Ende des Saals standen die reich verzierten Flügeltüren weit offen. Alastor hörte ein sanftes Plätschern und roch den Duft von Lotusblüten. Mit der Schwarzen Seele im Schlepptau begab er sich dorthin und trat durch die Tür in den Garten, eine stille Oase mit Palmen am Rande eines künstlich angelegten Teichs. Auf einem Felsblock im Schatten saß Sutekh.Die äußere Gestalt, die er für diesen Tag gewählt hatte, glich Alastors Erscheinung aufs Haar: gebräunter Teint, dichtes, blondes, sorgfältig geschnittenes Haar, offene Anzugjacke, glatt rasiertes Gesicht. Es war, als würde Alastor in den Spiegel schauen.
Nur zu gut wusste Alastor, dass das nur Fassade war. Es bereitete Sutekh Vergnügen, sich täglich eine neue Verkleidung auszudenken. Wie er in Wirklichkeit aussah, wusste nicht einmal sein eigener Sohn. Die modernen Verehrer der altägyptischen Götter stellten Sutekh oder Seth mit einem Hundekopf, der Schnauze eines Ameisenbären und einem Schwanz mit zwei Enden dar, eine Erscheinung, die Alastor bei seinem Vater allerdings noch nie gesehen hatte, obwohl er sich den Schwanz sehr gut vorstellen konnte.
Sutekh ruhte in malerischer Pose auf dem Stein. Ein Bein aufgestellt, das andere herunterbaumelnd, schien er versunken seinen Nilfischen zuzusehen, die er sich für diesen Gartenteich hatte besorgen lassen. Das ganze Gehabe sprach eindeutig dafür, dass er die Ankunft Alastors erwartet hatte.
„Du hast mich warten lassen“, sagte Sutekh, wobei er langsam den Kopf hob. „Lange warten lassen.“
Ein Unterschied zwischen ihnen trat jetzt deutlich zutage. Während Alastors Augenfarbe je nach Lichteinfall und auch abhängig von seiner Stimmung von blau zu türkisgrün wechseln konnte, waren Sutekhs Augen einfach nur schwarz, seelen- und ausdruckslos, dabei aber von einer geheimnisvollen hypnotischen Kraft.
Sutekh machte keine Anstalten, Alastor zu begrüßen. Das wäre Alastors Schuldigkeit gewesen. Der Prinz hatte dem König seine Ehrerbietung zu bezeugen. Aber Alastor dachte nicht daran. Er gab auch keine Erklärung für seine Verspätung.
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