Seelensunde
er aber vom Schauplatz des Geschehens verschwunden ist, bevor der Mord verübt wurde. Leider sind wir nicht in der Lage, das zu überprüfen.“
„Hast du keine neuen Hinweise, wer Frank Marin umgebracht hat?“
„Nein.“
„Die Isistöchter …“, sinnierte Sutekh, ohne näher darauf einzugehen. Für ihn stand felsenfest, dass sie für Frank Marins Tod und auch für Lokans Ermordung verantwortlich waren. Die Feindschaft zwischen ihm und Isis war tief verwurzelt und reichte bis in die graue Vorzeit zurück, als Sutekh Osiris, Bruder und Gatte von Isis, ermordet und zerstückelt und später auch Isis’ Sohn Horus verfolgt hatte. Dass Isis Sutekh hasste, war also erklärlich. Woher sein Hass auf Isis rührte, darüber sprach Sutekh nicht. Malthus pflegte zu mutmaßen, der Groll sei dadurch entstanden, dass Isis ihn abgewiesen und Osiris ihm vorgezogen hatte. Aber das war wohl nur einer von Malthus’ Scherzen. Jedenfalls nahm Alastor das an.
„Die Isistöchter haben selbst ein Opfer zu beklagen, das auf das Konto der Marin-Brüder geht“, wandte Alastor ein.
Der andere des Brüderpaars, Joe Marin, war beim Mord an Lokan ebenfalls zugegen gewesen, und er war nicht vorzeitig gegangen. Tatsächlich war nicht auszuschließen, dass das Verbrechen sein Werk war. Dagan und Alastor hatten in seinem Keller ein säuberlich geordnetes Archiv von Leichenteilen und abgehäuteten menschlichen Schädeln gefunden, das davon zeugte, dass Marin sein Schlachterhandwerk zur Perfektion getrieben hatte. Dazu gab es einen eindeutigen Beweis dafür, dass eines seiner Opfer jemand mit übernatürlichen Kräften gewesen war,eine Isistochter, Kelley Tam, Roxys Mutter.
Eines allerdings blieb unsicher. Die Isistöchter waren eine geheimnisumwitterte Gemeinschaft. Niemand vermochte genau zu sagen, wie weit ihre übernatürlichen Kräfte reichten und wo genau zwischen den Normalsterblichen und den Übernatürlichen sie einzuordnen waren. Möglich auch, dass das von Individuum zu Individuum variierte. Selbst in den eigenen Reihen verhielt sich die Gefolgschaft der Isis so konspirativ, dass viele ihrer Mitglieder nicht einmal von sich selbst wussten, wer oder was sie waren.
Roxy Tam zum Beispiel hatte zehn Jahre lang in den Glauben gelebt, dass Dagan es gewesen war, der sie zu einem vampirartigen Wesen hatte mutieren lassen. Dass sie als geborenes Mitglied der Isisgarde sozusagen von Haus aus menschliches Blut zur Erhaltung ihrer Energie brauchte, war ihr erst kürzlich klar geworden.
Unwillkürlich musste Alastor an Naphré denken, deren in die Haut eingebranntes Isiszeichen er unter dem Riss in ihrem Trikot gesehen hatte. Wie hoch mochte sie in der Hierarchie stehen? Alastor vermutete, dass sie nicht zu den Oberen zählte, da er bei ihr nicht die geringsten übernatürlichen Schwingungen hatte feststellen können. Von dem Mal auf ihrer Haut abgesehen, hatte er sie als gewöhnliche Sterbliche wahrgenommen.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragte Sutekh und erhob sich von seinem Stein. Wie ein zum Sprung bereites Raubtier kam er näher.
Alastor verbannte schnell seine Erinnerung an Naphré. „Ich habe nur über diese merkwürdigen Marin-Brüder nachgedacht.“
Sutekh starrte ihn an. Hinter seiner menschenähnlichen Maske verrieten ihn seine Augen, in denen nicht ein Funken Menschlichkeit zu entdecken war. Diese Augen waren uralt, eisig, mitleidlos, unergründlich und unerbittlich.
„Versuche nicht, mir etwas vorzumachen, mein Sohn.“ Wie jedes Mal, wenn Sutekh auf ihr Vater-Sohn-Verhältnis anspielte,bedeutete das nichts Gutes. „Du hast überhaupt nicht an die Marin-Brüder gedacht, sondern an etwas anderes … etwas, das dir Freude gemacht hat.“
„Freude?“ Alastor war unbehaglich zumute. Nicht so sehr, weil er sich durchschaut fühlte. Der Gedanke, dass Sutekh recht haben könnte, gefiel ihm nicht. „Du täuschst dich. Ich dachte daran, in welcher Verbindung die Marins zu den Isistöchtern stehen könnten.“
„Weil sie Frank Marin getötet haben, bevor wir etwas von ihm erfahren konnten?“
„Das wissen wir nicht. Dagans Partnerin …“
„Dagans Kebsweib“, korrigierte Sutekh uncharmant.
Alastor überhörte das. Er wusste, dass Sutekh ihn aus der Reserve locken wollte und es darauf anlegte, ihn so sehr zu provozieren, dass er die Fassung verlor. Aber er kannte seinen Vater lange genug, um dagegen gewappnet zu sein. „Dagan bevorzugt, soviel ich weiß, den Ausdruck Partnerin“, gab er kalt zurück.
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