Seelensunde
etwas wie Ironie des Schicksals zu geben.
Gegenüber tat sich etwas. Mit einem Ruck richtete Naphré sich auf und schaute gespannt auf die andere Straßenseite. Es dauerte eine kleine Weile, bis sie herausgefunden hatte, was sich da drüben geändert hatte. Hinter dem Gebäude war ein Lichtschein sichtbar geworden. Ob es eine Außenbeleuchtung am Haus oder ein Autoscheinwerfer war, konnte sie nicht sagen. Aber anscheinend benutzte jemand den Hinterausgang. Hinterausgänge waren immer interessant. Naphré schaute sich um. Dann sprintete sie über die Straße und lief durch eine schmale Gasse die Außenmauer entlang zur Rückseite des Gebäudes.
Vorsichtig lugte Naphré um die Ecke. In der Tat stand der Hintereingang offen. Die Stahltür war mit einer Getränkekiste blockiert. Das Licht fiel von drinnen auf die schmale Straße und ein Metallgitter vor der Tür, eine Rampe, von der ein halbes Dutzend Stufen hinunter auf die Straße führten. Vor der Tür stand eine Limousine mit laufendem Motor. Eine Tür zum Fond und die Fahrertür standen offen, aber im Wagen saß niemand.
Naphré hörte ein Geräusch. Rasch zog sie den Kopf zurück, drückte den Rücken gegen die Mauer und lauschte angestrengt. Zunächst hörte sie Schritte auf Zementfußboden, dann auf dem Metallgitter und den Stufen. Ein unterdrücktes Wimmern drang zu Naphré. Kurz darauf sagte eine Frauenstimme: „Bitte nicht …“ Wieder ein Stöhnen. „Tut mir nicht weh – bitte. Ich glaube, ich muss mich …“
… übergeben, ergänzte Naphré für sich. Genau das geschah dann auch.
Es folgten die unflätige Schimpfkanonade eines Mannes und ein Geräusch, das sich anhörte wie ein dumpfer Schlag. „Du rührst dich nicht von der Stelle, blöde Fotze.“ Darauf Schritte, die sich eilends entfernten.
Die Männerstimme kam Naphré bekannt vor. Verfluchter Mist. Ausgerechnet das konnte sie im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen. Sie war hier auf Beobachtungsposten, aber nicht, um in irgendetwas verwickelt zu werden. Doch genau das stand ihr jetzt bevor. Denn ihr verdammtes Gewissen beziehungsweise die davon noch erhaltenen Reste erlaubten es ihr nicht, der Szene einfach den Rücken zu kehren und sich davonzumachen.
Wieder klang das Stöhnen der Frau durch die verlassene Straße. Seufzend gab sich Naphré einen Ruck und bog um die Ecke. Auf die unterste Stufe der Treppe gestützt lag eine Frau auf dem Pflaster, die Beine von sich gestreckt, den Kopf gesenkt, sodass ihr das lange dunkelblonde Haar ins Gesicht fiel. Neben ihr schwamm in einer Pfütze Erbrochenes. Vergeblich mühte sie sich, den Kopf zu heben und wieder auf die Füße zu kommen.
Volltrunken, mit irgendwelchen Drogen zugedröhnt, was immer mit ihr los war, hier konnte sie nicht bleiben. Es bestand kein Zweifel daran, dass der Mann, mit dem sie unterwegs war, nicht der gute Onkel war, der ihr helfen wollte.
Naphré schaute sich kurz um. Niemand zu sehen. Der Motor des Wagens lief. Naphré beugte sich zu der jungen Frau hinab, schob ihr die Arme unter die Achseln und begann, sie zum Wagen zu schleifen. Die noch nicht verheilten Schnitte in ihrem Unterarm schmerzten, als das Gewicht des Mädchens darauf drückte.
Naphré hatte es fast bis zur Wagentür geschafft, als sie ein Geräusch hörte und den Kopf hob. Sie blickte Pyotr Kusnetzov direkt in die Augen, der durch eine Tür am Ende des Korridors kam, der zum Hinterausgang führte. Einen Augenblick lang blieb er wie versteinert stehen und starrte sie an. Dann begann er zu laufen und langte dabei in seine Jacketttasche.
Naphré ließ das Mädchen fallen und hechtete zur Treppe. Mit zwei Sprüngen war sie oben, stieß mit dem Fuß den Getränkekasten beiseite und schlug die Stahltür zu. Dann stemmte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür und stützte sich dabei mit den Füßen am Geländer ab. Hektisch sah sie sich nach etwas um, womit sich die Tür blockieren ließ, konnte aber nicht entdecken. Endlich fiel ihr das Ersatzmesser ein, das sie im Stiefel trug. Sie holte es heraus und steckte die Klinge an der Schwelle ins Metallgitter, sodass der Griff herausragte und die Tür praktisch verriegelte. Als sie sich wieder aufrichtete, hörte sie, wie sich jemand mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür warf.
Kusnetzov rüttelte an der Tür und brüllte wie ein angestochener Stier. Von den gepflegten Umgangsformen, mit denen er sie im Fitnessklub versucht hatte zu umgarnen, war, seinem Vokabular nach zu urteilen, nichts mehr übrig. Ihre
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