Seelensunde
verdauen und zu überlegen, welche Konsequenzen sie haben konnten. Der Gedanke, dass ihre Seele damit wieder frei war, war zwar verlockend, aber Naphré gab sich dieser Illusion keine Sekunde hin. Sie wusste inzwischen gut genug, dass es so in der Unterwelt nicht funktionierte.
„Und was bedeutet das jetzt für mich?“, wollte sie wissen. Alastor blickte sie nur mit ausdruckslosem Gesicht an. Seine Augen waren kalt, und das Blau in ihnen wirkte stumpf. Fast fürchtete sie sich vor ihm. Irgendetwas schien ihn zu bewegen. Sie konnte sich jedoch nicht vorstellen, was es war. Hatte sie ihn verärgert? Aber womit?
„Sprich mit mir. Sag mir, was du weißt“, drängte sie. „Gehört meine Seele jetzt wieder mir?“
„Was ich weiß …“, echote er. „Das ist es ja gerade. Ich weiß eben nicht, was es bedeutet. Und das ist immer schlecht.“ Es war eine Lüge. Oder, wenn es keine glatte Lüge war, war es wenigstens nicht die volle Wahrheit.
„Und …?“ Naphré wartete vergeblich darauf, dass irgendetwas Erhellendes von ihm kam. Nach einer Weile fantasierte sie dann wild drauf los: „Womöglich ist die Shikome ja deshalb aufgetaucht. Vielleicht ist meine Seele durch den Tod des Dämonen irgendwie auf sie übergegangen. Es könnte ja sein …“
„Die Shikome ist aus einem anderen Grund hinter dir her, den wir bislang nicht kennen. Aber es gibt keinen Übergang deiner Seele. Du schuldest sie noch immer demjenigen, dem sie die ganze Zeit schon gehört hat.“ Seine Worte klangen bitter. „Die Frage ist nur, was diese verfluchten Winkelzüge sollen.“
„Was für Winkelzüge? Ich verstehe kein Wort. Wie kann meine Seele einem Dämon gehören, der, wie du sagst, liquidiert worden ist?“
„Dem hat sie ja gar nicht gehört.“
„Was?“ Naphré wurde immer ratloser und allmählich auch wütend. „Entweder erklärst du mir, wovon du überhaupt redest, oder du lässt mich mit deinen vagen Andeutungen in Ruhe.“
Alastor merkte, dass er schon zu viel gesagt hatte, und entschied sich für die zweite Möglichkeit. Was immer sie noch fragen sollte, er war entschlossen, kein weiteres Wort mehr über die Angelegenheit zu verlieren.
Naphré spürte deutlich, dass Alastor sich nun ganz verschloss, und das hinterließ bei ihr ein äußerst mulmiges Gefühl in der Magengrube.
17. KAPITEL
S ie stiegen einen steilen Abhang hinab. Ein zufälliger Beobachter hätte sich über das eigenartige Paar sicherlich gewundert. Alastor in seinem feinen Anzug ging vorweg, Naphré, die mit ihren Stiefeln und dem Rucksack für einen Ausflug im Gelände besser ausgerüstet schien, bildete die Nachhut.
An manchen Stellen war das Gefälle so stark, dass Naphré sich zu einer mehr oder weniger kontrollierten Rutschpartie auf dem Hosenboden gezwungen sah. Sie konnte sich nur darüber wundern, wie Alastor es schaffte, auf seinen edlen italienischen Halbschuhen die Balance zu halten. Hin und wieder blieb er stehen und wartete, dass Naphré hinterherkam. Und jedes Mal hatte sie den Eindruck, er wollte etwas sagen.
Als sie etwa die Hälfte des Weges abwärts hinter sich gebracht hatten, brach er endlich sein Schweigen und meinte: „Es ist wohl besser, wenn ich dich trage.“ Er drehte sich zu ihr um und sah sie erwartungsvoll an, als rechnete er im Ernst damit, dass sie ihm sogleich auf die Arme sprang.
„Du spinnst wohl“, entgegnete Naphré, während sie sich das Bein beim Herunterrutschen an einem spitzen Stein aufschrammte. „Das kann ich schon allein.“
„Ich bin schon groß. Das kann ich schon allein“, spottete Alastor. „Du klingst wie eine Zweijährige.“
Naphré wunderte sich sehr. Er hatte den Tonfall genau getroffen. Sie wusste, wie Zweijährige redeten. In ihrer Nachbarschaft wohnte eine Familie mit Zwillingen in dem Alter, und Naphré hörte sie oft, wenn sie auf der Straße spielten. Meist dann, wenn sie gerade schlafen wollte. Aber wie kam es, dass Alastor diesen Tonfall so überzeugend imitieren konnte?
Bestimmt hatte er mit Kindern in dem Alter zu tun gehabt. Die Erkenntnis schockierte Naphré, auch wenn sie nicht genau darüber nachdachte, warum. „Was weißt du denn von Zweijährigen?“, fragte sie.
„Worauf zielt deine Frage, mein Kätzchen? Ob ich auch dieSeelen von kleinen Kindern sammle? Die Antwort lautet nein.“ Er wandte sich ab und setzte seinen Weg fort, während sie versuchte, Schritt zu halten, was ihr Schwierigkeiten bereitete, weil sich unter ihren Sohlen immer wieder Geröll und Steine
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