Seelensunde
es …?“
„Du hast Roxy doch kennengelernt.“
„Ja, aber sie kann dir das unmöglich alles erzählt haben. Dir, einem Reaper. Das wäre ungefähr so, als hätten die Russen während des Kalten Kriegs den Amerikanern ihre Staatsgeheimnisse anvertraut.“
„Es waren besondere Umstände, die sie dazu gebracht haben. Es ging um Leben und Tod. Roxy hat das eher unfreiwillig preisgegeben. Man kann auch nicht sagen, dass sie direkt etwas ausgeplaudert hätte.“ Er hob die Hand, um ihre Einwände zu unterbinden. „Die Geschichte müssen wir jetzt nicht erörtern. Nur so viel: Es wird dich interessieren, dass Roxys erstes Blut das von Dagan war.“
„Was? Du meinst …?“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre Verwirrung war komplett. Sutekh und seine Reaper waren das personifizierte Übel, das Schlimmste, das es gab. So war es ihr – und gewiss auch Roxy – von den Isistöchtern eingebläut worden.
Was Alastor betraf, konnte sie sich diesem harten Urteil nicht anschließen. Immerhin hatte er sie und Marie aus einer äußerst heiklen Lage befreit, wenn auch mehr oder weniger notgedrungen. Aber sie war trotzdem nicht bereit, aus ihm einen Heiligen zu machen.
„Du bist dran, mir etwas zu erzählen“, erinnerte er sie an seine Forderung, die Karten auf den Tisch zu legen. „Ich werde Izanamis Reich nicht unvorbereitet betreten.“
„Ich habe meine Seele“, begann Naphré nach einem kurzen Zögern, „einem Dämon verkauft, um mein Leben zu retten.“
„Sagtest du bereits.“ Etwas blitzte für einen winzigen Moment in seinen Augen auf, das sie nicht deuten konnte. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er mehr wusste, als er zugab.
Mit einem Seufzer fuhr Naphré fort: „Es war vor sechs Jahren. Ich saß ziemlich in der Tinte und verließ die Isisgarde.“
„Warum?“ Alastor machte deutlich, dass er nicht gewillt war, lockerzulassen.
„Sie wollten, dass ich in der Hierarchie aufsteige. Aber ich wollte nicht. Ich wusste, was für einen Scheiße auf mich zukam. Es gibt drei Blutlinien bei den Isistöchtern, die Keeper, die Adaptives und die dritte, zu der ich gehöre, die Guides. Die Guides sind kämpferisch, aggressiv. Wer von ihnen einmal das Blut gekostet hat, ist zum Töten bestimmt.“
„Aber das ist doch jetzt auch dein Job, und du scheinst ja ziemlich gut darin zu sein. Ich sehe da keinen Unterschied.“
„Richtig. Inzwischen gibt es auch keinen mehr. Trotzdem wollte ich das nicht. Ich wollte kein Killer werden, und ich habe das erste Blut verweigert. Ich wollte aussteigen, irgendetwas anderes machen. Kommt dir wahrscheinlich komisch vor, wennich hier etwas von moralischen Skrupeln erzähle.“
„Sprich weiter.“
Naphré gehorchte. Jetzt, da sie einmal angefangen hatte, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. „Ich war jung damals. Und ich war innerlich zerrissen. Es war schrecklich. Mein Vater und mein Großvater hatten mich im Sinne ihrer Werte und Traditionen erzogen. Die japanische Kultur basiert ganz stark auf Respekt und Pflichterfüllung. Das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Davor, vor dem, zu dem ich bestimmt war, davonzulaufen, erschien mir wie Fahnenflucht. Ich kam mir vor wie der mieseste Feigling.“
Alastor hörte schweigend zu, ohne eine Miene zu verziehen. „Ich war damals zwanzig und völlig aus dem Häuschen. Ich wollte mit meiner Anführerin darüber sprechen, aber sie war nicht da. So wandte ich mich an die Nächsthöhere. Und auf wen traf ich? Auf meine Mutter. Meine Mutter, die uns verlassen hatte und seitdem als verschollen galt. Sie hatte mich allein und im Stich gelassen. Die Garde war ihr wichtiger gewesen als die eigene Tochter. Ich habe sie dafür gehasst, aber gleichzeitig hat sie mich in meinem Entschluss bestärkt. Alles hatte sie aufgegeben, ihre Familie, die Menschen, die ihr die liebsten waren – für die Garde. Genau das war ein Pfad, den ich nicht beschreiten wollte. Ich war wie von Sinnen und bin davongelaufen. Per Anhalter landete ich auf irgendeiner Tankstelle, von wo aus ich meinen Vater anrief. Er ist sofort gekommen, um mich zu holen, obwohl ich zuvor ohne ein Wort der Erklärung verschwunden war. Stunden später, als wir im Wagen saßen und den Highway hinunterfuhren, froh, dass alles gut werden würde, kam uns ein Kieslaster entgegen. Ein Wagen bog, ohne auf ihn zu achten, auf den Highway ein, der Laster wich ihm aus und rammte uns frontal. Ich war schwer verletzt. Fast alle Rippen und der rechte Oberschenkel waren gebrochen, und
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