Seelensunde
lösten.
„Die Seelen, die ich sammle“, fuhr er über die Schulter hinweg zu ihr gewandt fort, „sind Schwarze Seelen, pechschwarz und stinkend vor Schmutz, der sich über Jahre angesammelt hat.“
Sie schwieg eine Weile, während sie sich auf den Weg konzentrierte. Dann stellte sie fest: „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was weißt du über kleine Kinder?“
„Ich hatte ein halbes Dutzend kleiner Nichten in diesem Alter.“ Ihm war anzuhören, wie widerwillig er die Auskunft gab.
„Und wie alt sind die jetzt?“
Alastor setzte seinen Weg fort, ohne zu antworten. Naphré merkte, dass sie ein Tabuthema angesprochen hatte, wollte auf eine Antwort jedoch nicht verzichten. Der Abhang war jetzt weniger steil, und das Gelände wurde etwas gangbarer. Sie lief einige Schritte, um ihn einzuholen. Als sie an seiner Seite war, packte sie ihn am Arm. „Alastor.“
Er blickte erst auf die Hand, die ihn hielt, dann in ihr Gesicht. „Was bist du denn mit einem Mal so zudringlich?“
Dennoch nahm er ihre Hand nicht weg oder machte sich los. Er brauchte es auch nicht, denn er hatte das Visier längst heruntergelassen und schien meilenweit von ihr entfernt zu sein. Naphré schmerzte die Zurückweisung.
Nach einer Weile ließ er sich zu einer Erklärung herab. „Meine Nichten und meine ganze Familie, die ich hier unter den Sterblichen hatte, sind längst tot und begraben. Solange ich dort lebte, sind sie wichtige Bezugspersonen für mich gewesen. Meine Schwestern haben uns damals oft mit den Mädchen besucht. Die sind herangewachsen und hatten selbst Kinder, und die wiederum hatten Kinder … Aber davon habe ich nichts mehr mitbekommen. Seitdem sind etliche Generationen ins Land gegangen.“
„Etliche Generationen“, wiederholte Naphré nachdenklich und fragte sich verwirrt, wie viele Jahre das wohl zurückliegen mochte. Meine Familie , niedliche kleine Nichten, die auf den Knien von Sutekhs Sohn „Hoppe, hoppe Reiter“ spielten. Was für eine Vorstellung! Er konnte zwar nach Belieben die Grenzen zwischen Ober- und Unterwelt passieren, aber das machte ihn noch lange nicht menschlich. Fast hätte sie ihn gefragt: Was stellst du eigentlich dar? Gott, Halbgott, Mensch oder Monster? Aber an seinem Gesicht konnte sie ablesen, dass es klüger war, sich jetzt zurückzuhalten, um nicht zunichtezumachen, was zwischen ihnen wachsen könnte.
Andererseits – was sollte da schon groß entstehen? Abgesehen davon, dass er ein Reaper war und es sich schon von daher verbot, an so etwas auch nur zu denken, hatte sie sich diese Dinge selbst verscherzt, als sie ihre Seele verkauft hatte. Diese Dinge – wie Zuneigung, Lie… Stopp, nichts mehr davon.
Sie musste an etwas anderes denken. Deshalb fragte Naphré rasch: „Wenn du von Generationen sprichst … Darf ich erfahren, wie alt du bist?“
„Nach menschlicher Zeitmessung?“
„Natürlich.“
„Pass auf, wo du hintrittst“, mahnte er und setzte seinen Weg fort. Naphré folgte ihm. Sie war sicher, dass das Gespräch für ihn beendet war. Unvermittelt drehte er sich nach einer ganzen Weile im Gehen halb zu ihr herum und sagte: „Nach menschlicher Zeitrechnung bin ich vor knapp dreihundert Jahren geboren.“
Naphré seufzte und bereute fast, dass sie ihn gefragt hatte.
Sie kamen an eine Schlucht. Die Hänge zu beiden Seiten waren grün und bewaldet. Der Untergrund zu ihren Füßen war sandig, von Steinen und größeren und kleineren Felsbrocken übersät. Hie und da gab es kleine, schlammige Pfützen. Alastor schloss daraus, dass es vor Kurzem geregnet haben musste.
Er hatte die goldene Gelegenheit verpasst, Naphré reinenWein einzuschenken. Sie hatten über seine Familie gesprochen. Da hätte er das Thema auf Sutekh lenken können, um ihr zu eröffnen, dass es kein Dämon war, der sie um ihre Seele gebracht hatte, sondern dass sein Vater Sutekh den heimtückischen Deal durch Gahijis Vermittlung eingefädelt hatte. Aber Alastor behielt es für sich.
Er wusste nicht, wie ihr Name in Sutekhs großes Buch gekommen war. Er wusste auch nicht, warum sein Vater von all den Seelen, die ihm gehörten, sich ausgerechnet Naphrés ausgesucht hatte, um Izanami einen Ausgleich für Butchers Seele anzubieten. Solange er sich darüber im Unklaren war, konnte er ihr nichts sagen, obwohl es ihm unglaublich schwerfiel. Denn er wurde das Gefühl nicht los, Naphré zu hintergehen.
Das Gelände war auch hier recht unwegsam. Es war ein Hindernislauf zwischen Felsbrocken hindurch und
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