Seelensunde
zügeln und in Schach zu halten. Die Seelen, die er gefordert hatte und die Menschen, die ihm einst nahegestanden hatten. Seine Eltern, seine Schwestern, die ihn vergöttert hatten. Das alles war schon so weit weg, dass er sich an ihre Gesichter nicht mehr hätte erinnern können, hätte er nicht zufällig ein paar vergilbte Fotos gefunden. Wenn sie ihn jetzt sehen könnten, würden sie ihn verachten. Aber auch diese Erinnerungen starben allmählich ab, eine nach der anderen.
Wo er sich jetzt befand, hatte der Begriff Zeit alle Bedeutung verloren. Die Fluten, in denen er hin und her geworfen wurde, waren unendlich tief. Das wusste er. Ansonsten hatte er sämtliche Orientierung verloren und spürte nirgends einen Widerstand. Auch wenn es Wasser war, worin er trieb, war dieser Stoff leichter als Wasser, wie Luft. Nichts gab es hier außer dieser unbeschreiblichen Kälte, in der jedes Wasser hätte zu festem Eis gefrieren müssen.
Er versuchte mit der Hand, mit der er Naphré hielt, fester zuzugreifen, aber er fühlte nichts, nicht einmal die eigene Hand. War sie noch da?
Sie wurden gegen einen Felsen geworfen – war es der Fels, der den Eingang nach Yomi verschloss? –, und im nächsten Augenblick wurde Naphré fortgespült. Er hatte sie verloren.
„Naphré!“ Sein Schrei gellte durch den leeren Raum unter der Kuppel eines pechschwarzen Himmels. Und doch war ihm, als steckte der Schrei in ihm fest, als dränge er gar nicht nach außen wie in einem Traum, in dem man aufschreit und doch keinenLaut hervorbringt. Jetzt war Alastor allein. Allein mit dem Ausblick auf einen sicheren Tod. Vor langer Zeit wäre ihm diese Aussicht höchst willkommen gewesen. Da hatte er geglaubt, dass es das Einzige wäre, was er verdiente.
Wieder rief er ihren Namen, und wieder war die einzige Antwort, die er bekam, das Tosen des Wassers.
Es war der Fluss.
Er war von Panik ergriffen. Er musste sie suchen. Wenn sie ertrank oder sonst den Tod in Izanamis Reich fand, wäre sie für immer für ihn verloren. Das durfte nicht sein. Alles in ihm wehrte sich gegen diese Vorstellung. Er hatte sie doch gerade erst gefunden.
Wieder hatte alles Zeitgefühl Alastor verlassen. Dass die Zeit verging, merkte er an einem verzehrenden Schmerz in jeder Zelle seines Körpers, der ihm signalisierte, dass er seine nächste Zuckerration brauchte. Gleichzeitig fielen ein weiteres Mal die Erinnerungen über ihn her wie ein Schwarm von Heuschrecken. Er sah das Gesicht einer Frau vor sich. Er vermutete, dass es seine Mutter war. Sie hatte die wässrigen Augen einer alten Frau und eine Haut wie Pergament, die von unzähligen Fältchen durchzogen war. Sie lächelte ihm zu und winkte ihn näher zu sich heran. Dann legte sie ihm die Hand auf den Scheitel und sprach: „Du bist ein wahrer Gentleman, mein Alastor. Vergiss das nie. Du bist der Sohn und Erbe deines Vaters.“
Der Sohn seines Vaters? Unverkennbar. Aber sie hatten beide nicht gewusst, welch schreckliche Prophezeiung in diesen Worten lag. Er war – oder er wurde noch – der Sohn seines Vaters. Aber eines ganz anderen Vaters, als seine Mutter damals gemeint hatte. Und auch der hatte einen Adelstitel. Und ein Erbe, das ihn in einen Killer, ein Monster, einen Reaper verwandelte.
Immer mehr Bilder tauchten auf. Die ermordeten Huren und Seeleute in den Slums des Londoner East Ends. Aber nicht von seiner Hand.
Mein Vater, mein Vater, warum hast du mich verlassen?
Sein irdischer Vater, der schon ein alter Mann gewesen war,als er noch in den Windeln gelegen hatte. Alastor hatte seine beiden Eltern geliebt, beziehungsweise das ältere Paar, das er für seine Eltern gehalten hatte. Genauso hatte er seine Schwestern geliebt, die großen Anteil an seiner Erziehung hatten und schon zu der Zeit eigene Kinder zur Welt gebracht hatten.
Seit all dies der Vergangenheit angehörte, war das Thema Liebe für ihn erledigt gewesen – wenn man von der brüderlichen Liebe absah, die er Dagan, Malthus und Lokan entgegenbrachte. Lokan – die Reihe schmerzlicher Erinnerungen riss nicht ab. Er hatte Lokans Lachen im Ohr. Nichts war von ihm geblieben als eine eingetrocknete Blutlache und das in den Boden gebrannte Isiszeichen daneben.
Schließlich Naphré.
Wieder ballte er die Hand zur Faust. Dieses Mal konnte er seine Finger spüren, merkte, wie sich die Nägel in den Handballen bohrten. Aber Naphrés Hand war nicht mehr da. Er hatte Naphré irgendwo auf dem Weg verloren, und das durfte nicht sein. Sie war seine
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