Seelentod
Willows irgendetwas gesehen hatte, und es hatte überhaupt keinen Vorsatz gegeben. Morde wurden oft aus den nichtigsten Anlässen heraus begangen, und dann waren sie ganz besonders tragisch.
Sie rief die Festnetznummer im Haus der Listers in Barnard Bridge an. Simon Eliot hob ab.
«Wie geht’s Hannah?»
«Wir haben nicht viel geschlafen», sagte er. «Ich dachte, vielleicht sollte ich einen Arzt rufen und es ihm erklären. Sie hat die ganze Nacht geredet und braucht Ruhe. Vielleicht kann er ihr ja was geben, was sie heute Nacht schlafen lässt.» Er hielt inne. «Sie möchte ihre Mutter sehen.»
Nicht ihre Mutter, die Leiche ihrer Mutter. Das ist was ganz anderes.
«Das müsste gehen. Ich selbst habe zu tun, aber ich sorge dafür, dass Sie von jemandem abgeholt werden.» Vera hatte schon beschlossen, dass sie Holly schicken würde. Vielleicht würde Hannah mit jemand Jüngerem ja offener reden.
«Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich dabeihaben will», sagte Simon. «Ich glaube, sie möchte sich ganz allein verabschieden.» Vera merkte an seiner Stimme, wie weh ihm das tat.
«Das ist bestimmt richtig so», sagte sie. «So haben Sie ein wenig Zeit für sich. Es bringt nichts, wenn Sie auch noch zusammenbrechen.» Sie schwieg kurz. «Ich würde gern mit ein paar von Jennys Freundinnen reden. Bei der Arbeit gibt es anscheinend niemanden, der sie gut gekannt hat, deshalb denke ich, sie muss Freundinnen im Dorf gehabt haben. Ihre Mutter wusste niemanden. Können Sie mir weiterhelfen?»
«Anne Mason», sagte er. «Sie ist Lehrerin an der Grundschule weiter oben im Tal und wohnt in einer umgebauten Scheune ein Stück außerhalb des Dorfs. Die beiden sind zusammen ins Theater gegangen und zum Essen. Haben einen Flamenco-Kurs zusammen gemacht. Ich glaube aber, dass sie gerade nicht da ist. Osterferien. Sie und ihr Mann haben ein Ferienhaus in Bordeaux, wo sie hinfahren, sooft sie können. Manchmal ist Jenny auch mitgefahren.»
«Ich nehme mal nicht an, dass Sie ihre Handynummer haben?»
«Ich nicht, aber Hannah vielleicht. Ich frage sie mal.» Dann war es am anderen Ende der Leitung still. «Ich kann überhaupt nichts für Hannah tun», sagte er schließlich, ein Aufschrei aus tiefster Seele.
«Im Moment kann keiner was für sie tun, Herzchen.» Und dann nannte Vera ihm Hollys Namen und sagte, dass diese sich mit ihnen in Verbindung setzen werde, sobald sie wüssten, wann Hannah ins Leichenschauhaus fahren könne.
Vera hatte sich mit Craig, Jennys Gebietsleiter, zum Mittagessen in Kimmerston verabredet. Er musste sowieso in die Stadt, und dies war sein einziges freies Zeitfenster. So redete er: Ein Schlagwort reihte sich ans nächste. Es sei ein Meeting der Geschäftspartner angesetzt, sagte er am Telefon. Irgendwas zwischen den verschiedenen Geschäftsstellen. So sehe sein Arbeitstag heutzutage aus, nur Strategie und Politik. Die Hilfsbedürftigen bekomme er überhaupt nicht mehr zu Gesicht. In Veras Ohren klang er allerdings verdammt froh darüber. Genau das soll ich auch machen, nur Strategie und Politik. Genau das wollen die Chefs von mir. Aber, großer Gott, stell dir nur vor, wie langweilig das wäre.
Er hatte vorgeschlagen, sich in einem Weinlokal auf der Front Street zu treffen. Sie war schon ein paar Mal daran vorbeigekommen, hatte sich aber noch nie versucht gefühlt hineinzugehen. Sie wusste genau, wie es drinnen war: viel zu teuer und affig. Und voll von schönen Menschen, die sie anstarren würden, als wollte sie die Obdachlosenzeitung verkaufen. Sie war absichtlich etwas zu spät dran, damit sie nicht allein da sitzen und auf ihn warten musste, und sah ihn auch gleich: ein Kerl in den Vierzigern, der einen Anzug trug und den
Independent
las. Neben ihm auf dem Boden stand eine Aktentasche. Vera hatte in ihrem ganzen Leben noch keine Aktentasche mit sich herumgetragen. Das Lokal war fast leer, es war noch zu früh für den Ansturm der Mittagsgäste, sodass niemand sie belauschen konnte.
Sie bemerkte die Überraschung und Enttäuschung auf seinem Gesicht, als er sie näher kommen sah. Vermutlich hatte er auf eine zweite Helen Mirren gehofft. Heutzutage erwarteten die Leute, dass eine Kommissarin aussah, als käme sie direkt aus
Prime Suspect
gesprungen. Er erhob sich, um ihr die Hand zu geben, und ihr fiel auf, wie groß er war. Es gab nicht viele Männer, die sie überragten.
«Es ist entsetzlich», sagte er. «Jenny Lister war die beste Sozialarbeiterin, der ich je begegnet bin. Ich habe keine
Weitere Kostenlose Bücher