Seelentraeume
entlang und verschmolzen mit den Metallteilen. Schläfrig und behaglich beobachtete Charlotte von ihrem Ruhekissen aus das beruhigende Zusammenspiel von Magie und Metall. Dabei stellte sie fest, dass sie nicht den geringsten Schimmer hatte, wie der Phaeton eigentlich funktionierte. Sie war schon hundertmal damit gefahren und hatte sich nie Gedanken darüber gemacht.
Jemand beobachtete sie. Charlotte drehte den Kopf. Richard saß ihr gegenüber in einem Kontursessel. Er trug noch dieselbe nach Rauch riechende Kleidung. Seine Haare standen zu Berge. Sein Arm lag in einer Schlinge. Er war geradezu lächerlich attraktiv, seine dunklen Augen blickten warm, geradezu einladend.
An die letzte Nacht konnte sie sich kaum erinnern. Sie wusste noch, wie kaputt sie gewesen war und dass sie auf Richard und George gewartet hatte … Georges Erzählung wollte keinen Sinn ergeben, und sie wollte von Richard wissen, ob er zugelassen hatte, dass der Junge seinen Vater tötete. Ihr Verstand schreckte vor der Vorstellung zurück, er könnte das Kind nötigen, mit dieser Schuld zu leben. George würde unheilbare Narben davontragen.
Richard stand wie ein wunderschöner Dämon vor dem Hintergrund der brennenden Stadt und musterte Charlotte schweigend. Sie ging auf ihn los und beschuldigte ihn, herzlos zu sein. Daraufhin sah er sie mit einem äußerst seltsamen Blick an und berichtete ihr, dass John Drayton sich selbst getötet hatte. Sie glaubte ihm. Richard war kein Lügner.
Und dann fragte er sie, ob sie ihn für ein Ungeheuer hielt.
In diesem Moment wollte sie es ihm sagen. Wollte ihm von der Dankbarkeit berichten, die sie überkommen hatte, als er ihr am Bug der Brigantine seinen Arm angeboten hatte. Wollte ihm sagen, wie sehr sie ihn dafür bewunderte, sich zu widersetzen, und dass sie sich wünschte, sie wäre ihm vor den jüngsten Ereignissen begegnet, bevor sie ihr Leben weggeworfen hatte.
Doch dann kam Jasons Mannschaft an Bord, und sie war um ein Haar wie eine hysterische Närrin in Ohnmacht gefallen. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen, und sie sackte zusammen wie eine Stoffpuppe. Irgendwie hatte sie die ersten zweiunddreißig Jahre ihres Lebens hinter sich gebracht, ohne auch nur einmal in Ohnmacht zu fallen, und nun war es ihr gelungen, innerhalb eines Tages gleich zweimal umzukippen. Das war bestimmt eine Art Rekord. Und so beschämend. Was für ein toller Partner sie doch war. Ein Wunder, dass sie nicht vor Scham im Boden versank und einfach starb.
Richard hatte ihr beistehen müssen. Sie erinnerte sich an seinen Duft, als er den Arm um sie gelegt hatte, den Geruch von Rauch und Sandelholz, ein üppiges, mildes, erdiges, kraftvolles Aroma, das sie an Orte entführte, an denen sie nichts verloren hatte. Sie hatte in ihrem benebelten Zustand etwas gesagt, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte.
»Wo sind die Jungs?«
»Vorne«, antwortete er. »Sie wollten unbedingt fahren.«
»Und der Hund?«
»Bei ihnen. Sie werden ihm irgendwann einen Namen geben müssen.«
»Wo sind wir?«
»Eine halbe Stunde von Camarine Manor entfernt.« Richard sah sie immer noch mit seinem warmen Blick an. »Wir sind fast da.«
»Schon?«
»Es ist bereits später Nachmittag«, sagte er. »Wir haben Kelena im Morgengrauen verlassen und sind den ganzen Tag gefahren.«
»Haben Sie die Hauptbücher noch?«
Er griff in einen vor seinen Füßen liegenden Beutel und zog das schmale, in rotes Leder gebundene Buch ein Stück weit heraus.
Da begriff sie es endlich. Die Schrecken der letzten Nacht waren Geschichte, sie konnte nun getrost loslassen und sie wie einen schlimmen Traum zu den Akten legen. Sie hatten die Beweise. Nun würden sie sie dem Marschall der Südprovinzen aushändigen, und der Sklavenhandel würde ein Ende nehmen. Letzte Nacht war sie zu fertig und zu traumatisiert gewesen, um das zu realisieren, doch jetzt fiel der Groschen endlich.
Sie sah Richard an. »Wir haben gewonnen.«
»Haben wir.« Er lächelte. Ein echtes, wunderbares Lächeln, das sie in seine Richtung trieb, als wäre sie ein Stück Metall und er ein Magnet, dessen Anziehungskraft sie so unversehens und machtvoll erfasste, dass sie sich tiefer in ihren Sitz drückte. Letzte Nacht, bevor sie in Ohnmacht gefallen war, hatte sie ihn geküsst. Da war sie sich fast sicher.
»Geht es Ihnen gut, Mylady?«, fragte er.
Die Anrede streichelte ihre Seele wie Samt auf der Haut. »Ja, danke.«
Sie wartete, aber er sagte nichts mehr. Näherte sich ihr auch nicht.
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