Seelentraeume
Wahrscheinlich wollte er sie erst mal wieder zu sich kommen lassen. Sie glaubte, dass er sie begehrte, aber womöglich hatte sie auch einfach zu viel in seinen Blick hineininterpretiert. Womöglich beruhte die Anziehungskraft gar nicht auf Gegenseitigkeit. Auf der Suche nach Beweisen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, kramte Charlotte in ihrem Gedächtnis. Doch sie fand keine. Sie glaubte zwar etwas in seiner Stimme gehört oder in seinem Blick gesehen zu haben, doch in Wahrheit kannte sie ihn kaum. Sie hatten gerade mal zwei Tage miteinander verbracht. Da konnte sie sich ohne Weiteres irren.
Sie hatte alles drangegeben, was man ihr beigebracht hatte, und war freiwillig in die Hölle marschiert, wo sie zahllose Menschen getötet hatte. Was sie mit Selbstekel erfüllte. Sie hasste, was aus ihr geworden war, und wünschte sich die Versicherung, trotzdem liebenswert zu sein. Das trübte offenbar ihre Urteilskraft. Dabei hatte Richard keinen Zweifel daran gelassen, wo seine Prioritäten lagen. Sicher, er behandelte sie stets mit absoluter Höflichkeit und versuchte Schaden von ihr zu wenden, andererseits war sie ihm ein nützliches Werkzeug. Jeder mit den Sitten des Weird vertraute Mann hätte ihr als Blaublütige und Frau dieselbe Höflichkeit angedeihen lassen.
Sie musste aufhören, sich etwas vorzumachen. Sie hatte sich einmal von ihrer Fantasie forttragen lassen, doch inzwischen war sie sich der Monster und des Herzeleids, die auf diesem Weg auf sie warteten, vollkommen bewusst. Sie hatte sich längst zum Narren gemacht. Und wenn er im Mindesten Takt besaß – und darüber verfügte Richard zweifellos im Übermaß –, würde er sie nicht darauf ansprechen.
Sie überlegte, wie sie sich jetzt verhalten sollte. »Wie geht’s Ihrer Wunde?«
»Besser. Sehr freundlich, dass Sie sich erkundigen, Mylady.«
Wieso um alles in der Welt klang sein »Mylady« wie ein Kosename? Charlotte begutachtete die Verletzung. Sie verheilte gut, andererseits drohte sich eine beginnende Entzündung zu einem ernsten Problem auszuwachsen. »Sobald wir da sind, muss ich Sie heilen.«
»Warum nicht jetzt?« Er klopfte aufmunternd neben sich auf den geschwungenen Sitz.
Sie blinzelte. Er lag in seinem Sitz, groß, hübsch, gefährlich, lächelnd. Ein durchtriebenes Lächeln, gleichzeitig einladend, nein, geradezu verführerisch, als wolle er versprechen, dass er sie, wenn sie sich nur neben ihn setzte, nehmen und sie es genießen würde.
Reiß dich zusammen. Du bist kein Schulmädchen mehr
. Charlotte zwang sich, achtlos mit den Schultern zu zucken, und bedeutete ihm mit einer gleichgültigen Geste, neben ihr Platz zu nehmen. »Warum nicht?«
Richard erhob sich und setzte sich neben sie. Sie erhaschte einen Hauch desselben Duftes, den sie in der vergangenen Nacht gerochen hatte, ein üppiger, leicht würziger, mit Rauch gemischter Sandelholzduft. Große Götter, das machte es ihr nicht eben leichter.
Schau ihm bloß nicht in die Augen, ignoriere sein Lächeln, dann wird alles gut
. Ihr Blick blieb an seinem kantigen Kinn hängen, wanderte zu seinen Lippen … Wie gerne hätte sie ihn geküsst.
Argh.
Sie zwang sich zur Konzentration auf die unter dem Wams verborgene Wunde. Sein Arm lag nicht mehr in der Schlinge. »Warum haben Sie Ihr Wams wieder angezogen?«
»Weil ich es keine gute Idee fand, meinen schlimmen Arm den Halsabschneidern zu präsentieren, mit denen wir unterwegs sind. Jasons Leute sind Haien ähnlich, wissen Sie? Beim geringsten Anzeichen von Schwäche reißen sie einen in Stücke.«
»Ziehen Sie Ihr Hemd aus.«
»Ich fürchte, dabei benötige ich Ihre Hilfe.«
Sie hätte schwören können, dass seine Stimme einen Hauch Humor verriet. Vielleicht amüsierte es ihn, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Es schien nicht zu ihm zu passen, dass er nur mit ihr spielte, andererseits taten Männer sehr seltsame Dinge, sobald es um Frauen ging. Vielleicht lachte er insgeheim über ihre Beschwernis.
Sie durfte ihre Gedanken nicht länger über die Stränge schießen lassen. Sie führten sie an verrückte Orte. Er benötigte Hilfe, um seine Jacke auszuziehen? Schön. Dann würde sie ihm eben dabei zur Hand gehen. Charlotte stand auf und half ihm behutsam aus dem Wams. Darunter kam eine langärmelige dunkle Tunika zum Vorschein. Die hätte sie ihm am liebsten vom Leib gerissen, um ihm ihren Standpunkt klarzumachen, andererseits ließ es ihre Berufsehre nicht zu, einem Patienten mutwillig Schmerzen zuzufügen.
Sein
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