Seelentraeume
dazwischen. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich da war oder ob ihn seine Erinnerung narrte.
Die Schwärze erstickte ihn.
Richard biss die Zähne zusammen und kroch auf die Straße zu. Nein, er war noch nicht am Ende. Er würde jetzt nicht sterben. Er musste noch etwas erledigen.
Die vom Regen geflutete Lichtung mit ihren Zypressen kam in Sicht.
»Hilfe!«, rief Sophie.
Er stolperte über die Leichen der Sklavenhändler. Folgte ihrer Stimme.
»Hilf mir!«
Ich versuch’s ja, wollte er ihr sagen, ich versuch’s ja, Schatz. Halte durch. Warte auf mich
.
Die Dunkelheit traf seinen Hinterkopf. Die Welt verging.
Charlotte betrachtete die auf ihrer Kücheninsel ausgebreiteten Lebensmittel. Okay, fast fertig. Fehlte nur noch der große Klumpen Rinderhack. Sie schnitt das Fleisch in fünf gleich große Portionen – jede würde für ein Abendessen samt Resten fürs Mittagessen ausreichen – und begann, sie in Plastikfolie zu wickeln.
Als sie das erste Mal eine Edgerin beauftragt hatte, ihr Lebensmittel aus dem Broken mitzubringen, hatte die Frau ihr eine Großpackung Hackfleisch abgeliefert. Charlotte hatte das Ding samt Folie eingefroren. Leider hatte sich gezeigt, dass man das Rindfleisch, nachdem man es einmal in der Mikrowelle aufgetaut hatte, nicht sicher wieder einfrieren konnte. Schließlich hatte sie das Fleisch zur Hälfte wegwerfen müssen.
Kochen gehörte zu den Dingen, die sie im Edge lernen musste. Auf dem College hatte das Personal ihr Essen vorbereitet, und auf ihrem Besitz hatte sie einen Koch beschäftigt. Die Erinnerung ließ Charlotte seufzen. Sie wusste Colin erst so recht zu schätzen, seit sie sich allein in der Küche zurechtfinden musste. Éléonore hatte ihr ein Kochbuch gegeben, und solange Charlotte sich genau an die Rezepte hielt, fiel das Ergebnis passabel aus, manchmal schmeckte es sogar richtig gut. Jahrzehntelange Erfahrung im Mischen von Arzneien sorgte für technisches Know-how, außerdem passte sie gut auf, aber wenn ihr die richtigen Zutaten fehlten, endete der Versuch, sie durch etwas anderes zu ersetzen, jedes Mal in einer Katastrophe. Vor ein paar Wochen hatte sie Éléonore bei der Zubereitung von Bananenbrot über die Schulter geschaut. Ganz einfach, »eine Handvoll Mehl«, eine »Prise Zimt« und schließlich »pürierte Bananen, bis alles richtig aussieht«. Charlotte hatte sich alles pflichtschuldig notiert, aber als sie das Rezept nachkochen wollte, kam am Ende ein steinharter, salziger Laib dabei heraus.
Sie hatte noch mehr gelernt: Bescheidenheit, ein einfacheres Leben. Die dunkle Magie in ihr war schon lange eingeschlafen, und genauso gefiel es ihr.
Helles Sonnenlicht fiel durch das offene Fenster und malte warme Rechtecke auf den Küchenboden. Ein wunderschöner Tag. Die Luft duftete nach Frühling und Geißblatt. Sobald sie so weit war, würde sie in der Schaukel auf ihrer Veranda lesen. Und ein schönes Glas Eistee trinken. Mhm, Tee wäre jetzt genau richtig.
»Charlotte? Bist du da drin?«, rief eine vertraute Stimme von der Veranda. Éléonore.
»Schon möglich.« Charlotte lächelte und wickelte das letzte Stück Rinderhack in Folie.
Éléonore fegte in die Küche. Sie sah aus wie um die sechzig, hatte jedoch letztes Jahr durchblicken lassen, dass der hundertzwölfte Geburtstag nicht das Schlechteste sei, was eine Frau erdulden müsse. Ihre Kleidung stellte ein kunstvolles Chaos aus zerfledderten und zerrissenen Schichten dar, alles makellos sauber und vage nach Lavendel duftend. Ihr Haar war zu einer chaotischen grauen Wolke toupiert und großzügig mit Talismanen, Zweigen und getrockneten Kräutern geschmückt. Und mitten in diesem Nest thronte eine kleine Kuckucksuhr.
Éléonore bereitete ihr Kummer. In den drei Jahren, die Charlotte sie nun kannte, war es ihr gesundheitlich immer schlechter gegangen. Ihre Knochen wurden dünner, und ihre Muskeln schwanden dahin. Vor vier Monaten war sie auf einem vereisten Weg ausgerutscht und hatte sich die Hüfte gebrochen. Charlotte hatte sie geheilt, doch ihre Gabe stieß an Grenzen. Sie konnte nur heilen, was der Körper ihr zur Verfügung stellte. Kinder hatten großes Potenzial, bei ihnen konnte sie sogar abgetrennte Gliedmaßen nachwachsen lassen. Doch Éléonores Körper war müde, die Knochen spröde, sie zur Regeneration zu bewegen ein schwieriges Unterfangen.
Alter war die einzige Krankheit, für die es keine Heilung gab. Im Edge und im Weird verlängerten die Menschen ihr Leben durch Magie, doch
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