Seelentraeume
Grundlagen der Magie und wollte auch nichts damit zu schaffen haben. »Nein, die Steine verhindern nur, dass jemand von draußen reinkommt; wenn man einmal drinnen ist, kann man sie bewegen oder einfach über sie hinwegsteigen, wenn man rauswill.«
»Vielen Dank«, sagte Daisy noch einmal. Die Mädchen gingen hinaus. Éléonore hörte die Fliegendrahttür zuschlagen.
Sie sah auf die Uhr. Charlotte war jetzt zwanzig Minuten fort. Sie konnte die Grenze zum Broken nicht überqueren. Ihre Magie war zu mächtig, daher würde sie vermutlich am Ende der Straße warten, vor der Grenze, bis Luke kam und ihr das Blut brachte.
Éléonore spürte einen Anflug von Furcht, eine Vorahnung, die einen unangenehmen Nachgeschmack hinterließ. Sie hätte nicht sagen können, ob es sich um eine Einflüsterung ihrer Zauberkraft handelte oder ob sie auf ihre alten Tage an Verfolgungswahn zu leiden begann. Alt zu werden war furchtbar. Im Übrigen würde Charlotte bei verschlossenen Türen im Truck sitzen bleiben. Und sie hatte ein Gewehr, so wenig es ihr auch nutzen würde. Nicht, dass das Mädchen sich nicht zur Wehr setzen konnte, aber sie besaß keinen so stahlharten Kern wie Éléonores Enkelin. Roses Entschlossenheit trug sie durch sämtliche Stromschnellen des Lebens. Auch Charlotte hatte ein paar Stürme überstanden, aber ihr fehlte die urwüchsige Gemeinheit eines geborenen Edgers. Aber deshalb war sie ja so besonders, und deshalb mochte sie sie auch so gern, überlegte Éléonore. Sie war schließlich auch nicht in East Laporte zur Welt gekommen. Charlottes Gegenwart erinnerte sie an eine andere Zeit und an einen liebenswürdigeren Ort.
Éléonore strich Richard das Haar aus dem Gesicht. »Wer ist Sophie, Richard?«
Er antwortete nicht. Sophie konnte alles Mögliche sein, seine Frau, eine Geliebte, eine Schwester. Éléonore wusste nicht viel über ihn. Sie war ihm bisher nur einmal begegnet, aber damals hatte er Eindruck auf sie gemacht. Es war seine stille, würdige Haltung. Sein Bruder dagegen war ein Heißsporn, Charmeur und Witzbold, während Richard über einen sardonischen, scharfen Verstand verfügte. Er redete nicht viel, doch bisweilen gab er mit völlig unbewegter Miene etwas überaus Kluges von sich …
»Mrs Drayton!« Ein Schrei, schrill und vor Entsetzen bebend. Tulip.
Éléonore lief zur Tür. Tulip stand vor den Wehrsteinen, ihr Gesicht vor Angst zu einer Schreckensmaske verzerrt. »Mrs Drayton! Die haben Daisy!«
Éléonore eilte über die Wiese. Bewegt euch schneller, Beine. »Wer? Wer hat Daisy?«
»Männer.« Tulip wedelte mit den Armen. »Mit Gewehren und Pferden.«
Plötzlich hallte ein langes, klagendes Heulen durchs Edge und Éléonores winzige Nackenhaare sträubten sich. Sie griff nach einem Wehrstein und zog Tulip in den schützenden Kreis. »Ins Haus! Sofort!«
Tulip rannte zur Tür, während Éléonore den Stein zurücklegte und ihr nachlief.
Als sie Hufschlag hörte, drehte sie sich um. Ein Reiter kam die Straße herauf. Sein Schädel war rasiert. Er trug schwarzes Leder, und während er heranritt, glitzerte die Sonne auf den Gliedern der langen Ketten, die an seinem Sattel baumelten.
Sklavenhändler.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Peitschenhieb. Éléonore stürmte über die Veranda ins Haus und verriegelte die Tür hinter sich.
Mit großen Augen sah Tulip sie an. »Was ist denn los?«
»Psst!« Éléonore ging zum Fenster und spähte durch die Lücke zwischen den Vorhängen. Der Reiter stoppte vorm Haus, wendete sein Pferd und wollte auf die Veranda zureiten. Die Wehrsteine erschauerten. Das Pferd scheute und warf den Reiter fast ab. Der starrte das Haus an, schob die Finger in den Mund und pfiff gellend.
Weitere Reiter tauchten auf. Alle trugen dunkle Kleidung und schnitten grimmige Gesichter. Manche waren tätowiert, andere angemalt, wieder andere trugen Menschenknochen in den Haaren. Ein halbes Dutzend Wolfripper, große, wild aussehende Hunde, flankierten ihre Pferde. Ein Mann mit dem vernarbten Gesicht eines Schlägers und langem, blondem Zopf ritt heran und ließ einen Körper auf die Erde fallen. Daisy.
Mon dieu
. Sie war weiß wie die Wand.
Die Männer umstellten die Wiese. Eins, zwei, drei … sechzehn, soweit sie sah.
Éléonore verließ der Mut. Die Männer würden keine Gnade kennen.
»Was ist passiert?«, flüsterte sie.
»Wir gingen über die Straße zum Auto. Daisy suchte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Dann kam der Blonde da angeritten und hat sie
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