Seelentraeume
auch.«
Sie war fasziniert von der Technik des Broken. Manches davon, etwa Mikrowellenherde, gab es so ähnlich auch im Weird, anderes, wie Plastikfolie und Handys, waren neu für sie gewesen. Nach der Übernahme des Ney-Anwesens war sie auf den mit seltsamen Fundstücken von den Reisen der Vorbesitzer vollgestopften Dachboden gestiegen, und sie hatte es geliebt, in ihren Hinterlassenschaften zu stöbern. Jedes Stück dort erschien ihr wie eine kleine, in Erinnerungsechos gehüllte Entdeckung. Genauso war es ihr mit den Tauschbörsen im Edge ergangen. Sie hatte nur selten etwas gekauft, aber Éléonore auf einer ihrer Schatzsuchen zu begleiten, war jedes Mal ein besonderes Vergnügen gewesen. Éléonore strahlte jedes Mal übers ganze Gesicht, wenn sie auf irgendeine Besonderheit aus dem Broken stieß.
Der Kummer traf sie wie ein Stich. Charlotte schaute geradeaus auf die Stadt. Sie würde die Sklavenhändler aufhalten. Und den Tag, an dem sie nach East Laporte kamen, verfluchen.
»Haben wir einen Plan?«, fragte sie.
»Das Sklavenschiff legt morgen Abend an«, antwortete Richard. »Man rechnet dort mit einer Besatzung von mindestens zehn Mann und einigen Sklaven, meistens zehn bis zwölf Heranwachsende und junge Erwachsene. Wenn die nicht am Ufer auftauchen, wird das Schiff vermutlich nicht anlegen. Aber wir müssen unbedingt an Bord.«
»Weil es zum Sklavenmarkt fährt?«
»Ja. Wie andere Unternehmen auch werden die Sklavenhändler von einem Aufsichtsrat überwacht. Die einzelnen Anführer haben allerdings keine Ahnung, wer die Leute sind, die darinsitzen.«
»Sie scheinen sich sehr sicher zu sein«, sagte sie.
»Wenn man einen Kerl über offenem Feuer röstet, bekommt man normalerweise ehrliche Antworten«, erklärte Richard. »Die Sklavenhändler kennen die Aufsichtsratsmitglieder nicht. Aber sie wissen, dass die Sklaven an Bord auf eine Insel gebracht werden. Entlang der Küste von Adrianglia gibt es siebenundsechzig Inseln. Die Sklaven werden auf dem Markt verkauft. Ein Buchhalter, der dem Aufsichtsrat unterstellt ist, überwacht alles und zeichnet die Abschlüsse auf. Er kennt die Identität und die Gesichter der Mitglieder.«
»Und wo bekommen wir eine Mannschaft aus Sklaven und Sklavenhändlern?«, fragte sie.
»Darüber verhandeln wir mit Jason Parris«, antwortete Richard.
»Wer ist das?«
»Der niederträchtigste Verbrecherkönig im ganzen Kessel.«
Die Furcht, die sie seit dem ersten Blick auf Kelena erfasst hatte, schlug nun wieder voll durch. »Ah«, sagte Charlotte mit erzwungener Munterkeit. »Da bin ich aber erleichtert. Und ich dachte schon, wir begeben uns in Gefahr.«
Richard schritt über die Holzplanken am Sharkmonger Canal des Kessels. Es war ihm bewusst, dass Charlotte neben ihm und der Hund einige Meter hinter ihm herlief. Rechts bildeten einstöckige, aus allem Möglichen von Steinen bis zu Altholz erbaute Gebäude eine durchgehende Mauer. Die ausgeblichenen, wettergegerbten Markisen, über die alle Etagen verfügten, ragten über die Holzplanken und schützten sie vor Regen und Sonne. Es war bereits spät am Abend, und die zahllosen farbigen, an Ketten und Seilen befestigten Laternen schienen mehr Schatten zu schaffen als zu vertreiben.
Hinter den Gebäuden reckten sich noch höhere Bauwerke und gaben dem Kanal das Gepräge eines am Fuß einer tiefen, von Menschen geschlagenen Schlucht fließenden Stroms. Das Wasser hatte die Farbe von Tee mit Milch und war vollkommen undurchsichtig. Zahlreiche Docks, zu erkennen an den hellen, orangefarbenen und grünen Fahnen, säumten den Kanal.
Die Luft schmeckte bitter, salzig. Mit dem Gesicht nach unten trieb eine Leiche im Wasser und stieß gegen die Holzpfeiler. Charlotte verharrte kurz und ging dann weiter.
Vermutlich war sie noch nie an einem Ort wie diesem gewesen, dachte Richard, und wenn doch, würde er nichts darüber wissen. Aber offensichtlich gehörte sie nicht unter diesen grausamen menschlichen Abschaum. Seine Cousine Cerise hätte an ihrer Stelle längst die Hand am Schwert gehabt und sich wie ein Raubtier in unbekanntem Gelände bewegt. Und Declans Frau Rose wäre gewiss wachsam, alarmiert oder wenigstens vorsichtig gewesen. Charlotte schwebte dahin. So wie sie sich hielt, selbstsicher, leicht gleichgültig, als spaziere sie durch einen Garten und lausche dem ein wenig faden Monolog eines Bekannten, hätte man ihr Aufenthaltsrecht hier unmöglich infrage stellen können. Sie passte sich an, und wenn sie eine
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