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Seelentraeume

Seelentraeume

Titel: Seelentraeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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Eichen mit langen Moosbärten. Schon vor Langem war der Tag der Nacht gewichen, der Mond stand hell am Himmel und tauchte die Straße in silbriges Licht. Zwischen den Bäumen verbarg sich Dunkelheit. Fremdartige Laute drangen aus dem Wald: tiefes, gutturales Grunzen, gefolgt vom fernen Knurren eines Raubtiers, das schrille Quieken eines Nagers und die unheimlichen Rufe der großen Twilight-Eulen, die ihre Opfer aufscheuchen wollten. Und irgendwo im Unterholz begleitete sie, ungeachtet seiner Masse lautlos, der Hund.
    Sie hatten Voshaks Taschen durchsucht und im doppelten Boden seiner Feldflasche den Codeschlüssel sowie eine weitere Karte gefunden. Während Richard den Code knackte, hatte sie die besten Pferde ausgewählt und nach brauchbaren Waffen gesucht. Die Karte deutete auf einen Sammelpunkt nördlich der großen Hafenstadt Kelena hin und nannte ein Datum sowie einen Zeitpunkt, elf Uhr abends, am übernächsten Tag. Nachdem sie ihre Vorräte aufgefüllt hatten und Richard ein paar besonders ausgefallene Ledersachen in ihre Satteltaschen gestopft hatte, waren sie unverzüglich losgeritten.
    Richard zügelte sein Pferd.
    »Was ist los?«
    »Meine Wunde tut weh«, antwortete er.
    Ihre Magie verriet ihr, dass es nicht schlimmer um seine Wunde bestellt war als Stunden zuvor. Er wollte ihr Gelegenheit geben zu rasten, und eigentlich war sie zu müde und zu dankbar, um sich deshalb mit ihm zu streiten. Doch das musste sie. »Nett von Ihnen, aber machen Sie wegen mir keine Umstände, ich komme schon klar.«
    »Es sind nur noch ein paar Meilen«, sagte er. »Waren Sie schon mal in Kelena?«
    »Nein.«
    »Diese Stadt ist ein lauter, greller Bienenstock. Wir gehen in den Kessel, eine der gefährlichsten Gegenden von Adrianglia. Diesen Namen trägt sie, weil das Schlimmste, was die Menschheit zu bieten hat, dort so lange aufgekocht wird, bis der Abschaum oben schwimmt.«
    Charlotte lachte leise. Nach allem, was hinter ihr lag, hatte sie nicht geglaubt, jemals wieder lachen zu können, doch sie fühlte sich federleicht und allem entrückt. »Sie haben Ihre Berufung verfehlt.«
    »Als Dichter bin ich ein Totalausfall«, sagte er. »Mit vierzehn habe ich eine lange Ballade darüber verfasst, wie leer mein Leben war und wie schwer ich an mir selbst zu tragen hatte. Mein Bruder nahm sie mir weg und las sie bei einem Familienfest laut vor. Das war das erste und letzte Mal, dass es mir gelungen ist, meine ganze Familie zum Lachen zu bringen.«
    Wieder musste sie lachen. Sie hörte den hysterischen Unterton in ihrer Stimme, konnte aber nichts dagegen machen.
    Richard zügelte sein Pferd und stieg ab.
    Charlotte brannten die Augen. Sie musste sich zusammenreißen.
    Richard nahm ihre Zügel und führte ihre Pferde von der Straße. Sie glitt aus dem Sattel. Ihr Körper protestierte energisch, ihre Glieder zitterten. Vor ihr ragte eine große Pappel auf. Charlotte ging um den Baum herum, setzte sich auf die Erde, schlang die Arme um die Knie und krümmte sich zu einem Ball zusammen, wie sie es als heimwehkrankes kleines Mädchen getan hatte.
    Es war vorbei.
So geerdet, wie du bist, schlägst du bald Wurzeln, Charlotte
. Sie war nicht länger geerdet. All ihre Mühen, ihr selbst auferlegtes Exil, alles umsonst. Sie hatte Menschen umgebracht, hatte deren Leben in Händen gehalten und ihnen das Licht ausgeblasen. Und es hatte ihr Freude bereitet. Éléonore war tot. Daran konnte Charlotte nicht das Mindeste ändern. Éléonore hatte vor ihrem Tod sicher gelitten.
Es tut mir leid. Es tut mir so leid
.
    Um den drohenden Sturzbach aufzuhalten, biss sich Charlotte auf die Unterlippe.
    Oh Mutter der Morgenröte. Wie hatte alles nur so aus dem Ruder laufen können?
Bitte
, betete sie stumm,
bitte, bitte mach, dass das alles nur ein Albtraum ist. Lass mich bitte aufwachen. Ich möchte einfach aufwachen. Bitte
… Sie hätte alles dafür gegeben, die letzten vierundzwanzig Stunden rückgängig machen zu können. Damit Éléonore und Daisy nicht hätten sterben müssen. Und um Tulip zu beschützen. Arme Tulip. Sie war jetzt ganz allein auf der Welt. Im einen Augenblick hatte sie noch eine Schwester und eine Zukunft gehabt und im nächsten gab es für sie nichts mehr als Trauer.
    Die Wärme hinter ihren Augen verwandelte sich in Tränen. Ihre Brust schmerzte. Sie schluchzte. Plötzlich konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Tränen stürzten ihr aus den Augen.
    Aus dem Gebüsch tauchte ein dunkler Schatten auf. Der Hund ließ sich zu ihren

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