Seelentraeume
Wasserleiche entdeckte, hielt sie kurz inne, als handele es sich um eine seltene Blume, und setzte dann ihren Weg fort.
Ihre Ausbildung war so mächtig, dass sie sogar hier makellos Haltung bewahrte. Charlotte musste eine Mentorin aus einem alten Adelsgeschlecht und mit einem intuitiven Verständnis für Umgangsformen gehabt haben. Dies erkannte er, weil er selbst, obwohl eine arme Edge-Ratte, von solch einer Person erzogen worden war. Sein Mentor war sein Großonkel gewesen, ein Verbannter aus dem Herzogtum Louisiana, und Richard wusste, dass Vernard, wäre er noch am Leben gewesen, nur lobende Worte für Charlotte gefunden hätte.
Wer mochte sie so sehr gekränkt haben, dass sie alles stehen und liegen gelassen hatte und ins Edge geflohen war?
Mutter der Morgenröte, da trieb ein Toter im Wasser.
Charlotte lief es eiskalt den Rücken hinunter, in einer alarmierenden Mischung aus Ekel, Angst und Sorge. Der Anblick einer einzigen Leiche hätte sie, nachdem sie selbst so viele Menschen getötet hatte, eigentlich nicht so beunruhigen dürfen, doch irgendwie wurde ihr angesichts dieses einsamen, aufgedunsenen Körpers, den man wie Abfall entsorgt hatte, beinahe schlecht.
»Erzählen Sie mir von diesem Verbrecherkönig«, forderte sie in der Hoffnung auf Ablenkung, bevor ihr Magen rebellierte und sich hemmungslos auf die Holzplanken entleerte.
»Jason Parris wurde im Broken geboren. In einem Bergdorf«, berichtete Richard. »Seine Familie war arm, also ging er nach der Highschool zum Marine Corps. Das ist eine Elitetruppe im Broken. Er kam heil aus einem Krieg im Ausland zurück und nahm nach den ersten vier Dienstjahren seinen Abschied. Zu Hause hielt er es in keinem Job lange aus. Er war bei mehreren Firmen, arbeitete mit den Händen, wurde aber entweder gefeuert oder schmiss die Brocken hin – er hat es nirgendwo lange ausgehalten.«
»Wieso? Hätte er beim Militär nicht Disziplin lernen müssen?«
»Oh, Disziplin ist nicht sein Problem.« Richard zuckte die Achseln. »Außerdem hat er sehr genaue Vorstellungen, wer seine Loyalität verdient und wer nicht. Er hat auf seine Sergeants und Offiziere gehört, weil sie dasselbe taten wie er, und er war so klug zu begreifen, dass sie ihn am Leben erhalten wollten. Für ihn hatten sie das Recht erworben, ihm Befehle zu erteilen. Seine Arbeitgeber dagegen hatten diesen Respekt nicht verdient. Verständlicherweise hielten sie nicht sehr viel von seiner Einstellung, und Jason behielt nie lange einen Job. Aber er war an eigenes Geld gewöhnt und war plötzlich, um ein Dach über dem Kopf zu haben, auf seine Verwandtschaft angewiesen. Darüber wurde er sauer. Und eines Abends ging seine Wut bei einer Kneipenschlägerei mit ihm durch: Er verletzte einen Mann schwer. Damit er nicht in den Knast musste, brachte ihn ein Verwandter ins Edge. Er fand sich gerade mit dem Gedanken ab, dass Magie tatsächlich existierte, als Sklavenhändler die Siedlung im Edge überfielen. Jason war fit und gesund. Aus Sicht der Sklavenhändler Vorzugsware. Sie überwältigten ihn. Doch er erwies sich als schwieriger Gefangener und ging bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Kerle los. Voshak gab sich alle Mühe, ihn zu brechen – ohne Erfolg. Jason kam auf den Markt und wanderte in eine Granatmine. Ich habe sie einen Monat später überfallen und ihn in einem Loch im Boden gefunden. Das war mein zweiter Überfall, und wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß, hätte ich ihn wohl eher nicht aus diesem Loch gezogen.«
»Wollte er denn nicht heim?«
Richard verzog das Gesicht. »Nein. Stattdessen fragte er nach dem Weg in die nächste Stadt. Also habe ich ihn in Kelena abgesetzt. Seitdem nennt er sich Jason Parris und behauptet, die Stadt würde als seine Insel bekannt werden. Wenn Sie so wollen, eine Anspielung auf den Ort, an dem seine militärische Ausbildung begann. Und heute, nur ein Jahr später, gehört ihm alles, was Sie hier gerade sehen. Die alten Verbrecherkönige, die im Kessel das Sagen hatten, haben gewisse Grenzen eingehalten. Sie hatten Familien und Geschäftsinteressen, die sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen wollten. Parris dagegen besaß nichts. Er nahm sie auseinander und riss sich ihr Territorium unter den Nagel. Er tötet, wen, wann und wie es ihm beliebt. Rücksichtslos und ohne Erbarmen.«
»Warum sollte jemand bei ihm mitmachen?« Schließlich würde sich so einer früher oder später die eigenen Leute vornehmen.
Richard schüttelte den Kopf.
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