Seelentraeume
Zeit bis zu ihrem Ableben: zwei, drei Minuten. In Charlotte regte sich ein vertrautes Pflichtgefühl, dieses Mal jedoch nicht aus Freundlichkeit, sondern allenfalls aus Gewohnheit.
»Wollen Sie, dass ich sie heile?«, fragte Charlotte.
»Nein. Eine Psycho weniger.«
»Dann machen Sie Schluss mit ihr. Sie leidet.«
Miko ließ sich auf ein Knie nieder. Ihr Messer hob sich, fuhr herab, und Lynda rührte sich nicht mehr.
Da flog die Tür auf und gab den Blick auf Richard frei. Wurde auch Zeit.
Er winkte ihr, Charlotte ging zu ihm.
»Wir legen bald an«, flüsterte er. »Und es sind neunzehn Seeleute an Bord.«
»Was ist mit dem Captain?«, wollte sie mit Blick auf die Jungen wissen.
Zwei Augenpaare starrten sie düster an. Eines davon leuchtete bernsteinfarben.
»Er gehört uns«, sagte Jack, seine Stimme ein raues, unmenschliches Knurren. Ringsum wichen Menschen vor ihm zurück.
»Aber wartet, bis ich euch rufe«, sagte Richard und sah Charlotte an. »Also nur die Seeleute.«
Sie reckte ihr Kinn. »Bringen wir’s hinter uns.«
Richard wandte sich ab und kletterte die Leiter hinauf an Deck. Sie folgte ihm. Das Schiff pflügte, die grandiosen Segel weit gespreizt, die Meeresoberfläche kaum berührend, durch das blaugrüne Wasser und den salzigen Wind. Die dichte magische Nebelbank umgab es auf allen Seiten außer am Bug, wo der Vorhang sich teilte. Jenseits der Lücke blinkten orangefarbene und blaue Lichter – ihr Ziel.
Auf Deck bewegten sich Seeleute. Manche saßen, manche unterhielten sich leise. Richard zog sie an die Kajüte, schützte sie mit seinem kräftigen Körper und verbarg sie so vor dem Rest der Mannschaft. Sie legte die Hände auf seinen in Leder gehüllten Leib, spürte die tröstliche Kraft seiner muskulösen Schultern. So dazustehen fühlte sich sehr intim an. Es war fast eine Umarmung. Ihr war klar, dass sie zu viel hineinlegte, aber sie hätte dringend eine Umarmung gebraucht.
Etwas berührte sie. Sie blickte nach unten. Der Wolfripper schmiegte sich an ihre Beine.
»Wie schnell sollen sie sterben?«, flüsterte sie. Sie war so wütend, diese Typen waren Abschaum, der Sklaven verschiffte und Kinder an die Haie verfütterte. Dafür würde sie ihr Leben auslöschen.
»Bei unserer gegenwärtigen Geschwindigkeit legen wir in fünfzehn Minuten an. Gleich werden sie Farben setzen«, erklärte er. »Der Hafen ist wahrscheinlich gut bestückt. Es wird eine Anforderung geben, uns zu identifizieren. Wenn wir nicht entsprechend reagieren, wird man uns für ein feindliches Schiff halten. Sobald unsere Antwort akzeptiert wurde, gehören sie Ihnen. Töten Sie sie so schnell und leise Sie können.«
»Anforderung!«, meldete jemand.
Richard beugte sich vor, um einen Blick auf den Schiffsbug zu werfen. Charlotte tat es ihm nach.
Über dem Hafen flackerte es hellgrün. Charlotte hielt gespannt den Atem an.
»Falls es wieder grün leuchtet, haben wir die Erlaubnis zu passieren«, flüsterte Richard ihr ins Ohr. Sein Atem ein heißer Hauch.
»Setzt die Farben«, bellte eine Stimme ein Deck über ihm. »Eins, zwei, zwei, zwei, eins, drei.«
Magie schoss die Masten hinauf. Auf den Segeln leuchteten Geheimsymbole auf, jeweils eines an den Segeln des Mittelmasts und das dritte an den Segeln des Zentralmasts auf der linken Seite.
Darauf erblühte am Nachthimmel ein zweites grünes Leuchten.
Eine tiefe Stimme bellte einen Haufen nautischen Unsinn. Die Mannschaft rannte übers Schiff, drehte Schwungräder und legte Metallhebel an den Konsolen der Masten um. Segel erschlafften. Langsam begannen sich die segmentierten Masten zu strecken.
»Jetzt!«, rief Richard.
In ihrer Brust regte sich erwachend ihre gewaltige Magie. Sie lauschte, ging die Seuchen durch, die sie in sich trug, bis sie jene fand, die ihr passend erschien.
Ein Seemann flitzte vorüber. »He, Crow, wen hast du denn da?«
Charlotte griff über Richards Schulter aus und berührte sanft das wettergegerbte Gesicht des Mannes. Ihre Magie erhob sich in dünnen dunklen Strömen – wie die Fangarme eines Oktopus – und durchbohrte ihn. Er bemerkte es kaum. Doch unter ihrem Zugriff brach seine Haut auf und löste sich in winzig kleinen, magisch funkelnden Partikeln ab, die der Wind zum Rest der Mannschaft trug. Wie hypnotisiert starrte sie der Mann an und starb dann sehr rasch. Die Gesichtshaut zerfiel zu Staub, als hätte er den Kopf in einen Sack Mehl gesteckt.
Ihre Magie hüllte ihn ein, nahm ihm die letzte Kraft und zog sich zurück.
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