SeelenZauber - Die Wahrheit (German Edition)
Zweihundert Meter? Ohoh!
Sie fuhren am Rand der Welt entlang, so wirkte es jedenfalls. Eine weite grüne Ebene, die plötzlich einfach endete und in die Tiefe stürzte, als wäre vor sehr langer Zeit jemand sehr wütend gewesen und hätte sie einfach mit vielen zornigen Axtschlägen vom Land gespalten. Sie passierten einen dunklen Turm und fuhren weiter gen Norden.
Dann gab Atticus das Zeichen und Nilahs Vater ließ den Wagen auf einem riesigen Plateau ausrollen. Im Licht der Scheinwerfer sah man nichts als Weite und Gras. Er schaltete den Motor aus, Atticus schwang tatkräftig die Tür auf und streckte sich laut.
Nilah blieb noch etwas sitzen. Plötzlich verließ sie der Mut. Denn jetzt waren sie da. Das war wie beim Zahnarzt. Im Wartezimmer war noch alles in Ordnung, doch wenn man seinen Namen hörte und auf den grellen Stuhl musste, schmolz man dahin.
Sie stieg aus. Warmer Wind umhüllte sie. Sie konnte kaum atmen, so intensiv war der Geruch der Elemente. Dann nahm sie die Ruhe wahr. Die anderen schienen es ebenfalls zu spüren, denn auch sie standen reglos auf der Ebene, wie gefangen.
Als würde in diesem Moment nur allein dieser Ort existieren und als sei der Rest der Welt in schlafendes Vergessen gehüllt. Sie sah ihren Vater und Morrin auf die Bruchkante zugehen. Atticus folgte ihnen. Sie wollte sich grade umdrehen und ... als er hinter sie trat und sie seinen Atem in ihren Haaren spürte.
»Siehst du nun, was ich einst sah?« Seine raue Stimme versank in ihr. Nilah zitterte.
»Einst war hier ein Wald. Man konnte durch ihn hindurch wandern.« Nilah schloss die Augen. »Die Sonnenstrahlen fielen wie Tropfen aus Licht durch die Blätter. Der Geruch von Leben wehte im Wind und das Gras war weich.« Sie roch es! »Ganz langsam setzte man einen Fuß vor den anderen.« Ihr linkes Bein zuckte. »Vorbei an den dunklen alten Stämmen, den zwitschernden Stimmen der Vögel.« Weiter, ich will weitergehen. »Bis der Blick einem das Herz öffnete, so weit, dass man kaum noch atmen konnte. So weit, dass man es danach nie wieder würde verschließen können.«
Nilah öffnete die Augen.
Der Anblick rauschte wie ein Sturm durch sie. Sie atmete laut. Sie taumelte. Er hielt sie. Es war, als wäre sie in eiskaltes Wasser gesprungen, so sehr stieß sie die Luft wieder heraus. Ihre Augen konnten nicht fassen, was die Natur in sie strömen ließ.
»Dies ist dein Land«, klang es in ihren Ohren.
Sie sah hinab.
Ein schwarz schimmernder Ozean, weiter als ihr Blick es jemals fassen konnte, schwebte unter ihr bis zum Himmel. Keine Grenzen mehr.
Sie wollte fallen. Ihr Bauch wollte fallen, all das umarmen, mitten hinein in dieses Bild. Sie atmete ruhiger, dann ganz ruhig ... und ließ los.
»Nur jene, die wirklich fallen wollen, verstehen dieses Land, Nilah.«
Die Berührung, die sie zurückgehalten hatte, verschwand.
Sie bebte.
Nilah stand bis zu den Zehenspitzen an einer senkrecht abfallenden Steilwand. Zweihundert Meter unter ihr das Meer. Nur ein Schritt, nur eine Böe und sie wäre ...
Sie hob den Kopf und ein Kribbeln und Summen überschwemmte sie, einer Flut gleich. Sie breitete die Arme aus und flüsterte: »Ich bin zurück.«
Daan konnte nur mühsam von Morrin zurückgehalten werden, als er mit ansah, wie Liran Nili bis an den Klippenrand führte, wobei er ihr Worte zuzuflüstern schien. Seine Tochter ging einfach voran, als gäbe es ihre Höhenangst nicht, als wäre sie blind, als würde es nur sie und diesen Krieger geben.
»Lass ihn!« Morrin zog ihn zu sich heran. Er konnte in ihrem Gesicht keine Angst erkennen. Warum nicht? Waren denn alle hier außer Kontrolle geraten?
»Sie hat fürchterliche Höhenangst, Morrin«, stöhnte er verzwei-felt. »Er wird ihr den Schock ihres Lebens bereiten, lass mich endlich ...«, er wollte sich losreißen, aber Morrin hielt ihn eisern zurück. Sie sah ihn flehend an.
»Bitte, Daan. Nicht immer sind Liebe und Stärke ein und dasselbe. Nämlich dann nicht, wenn die Liebe etwas zurückhält, während die Stärke es vorwärts treibt. Bitte, lass deine Tochter einmal ohne deine Liebe gehen. Auch wenn es dir schwer fällt.«
Daan verstand nicht ein Wort von dem, was Morrin gesagt hatte, aber sie hatte es so eindringlich getan, dass etwas in ihm brach. Mit ängstlichen Augen verfolgte er, wie Nili bis an den Rand ging. Er konnte kaum Luft holen. Liran trat zurück ... doch dann breitete seine Tochter plötzlich die Arme aus und er wusste nicht mehr, was noch wahr war
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