Seelenzorn
Schlafzimmer der Pyles geschlichen. Jemand, der sich innerlich tot fühlte. Jemand, der völlig verzweifelt war.
»Arden.« Vorsichtig trat sie einen Schritt vor. »Es gibt noch andere Möglichkeiten.«
Das Mädchen würdigte sie kaum eines Blickes. »Was wissen Sie denn schon?«
»Ich weiß, dass es keine gute Idee ist, mich zu erschießen. Willst du dein Kind im Gefängnis kriegen? Und dann einen Monat später hingerichtet werden?«
»Wen kümmerts.«
Ach, Scheiße. Sie war einfach nicht gut in so was. Eigentlich gab es nur wenige Dinge, bei denen sie sich noch blöder anstellte.
Was war denn bloß los mit diesen Leuten? Wie konnten sie bloß annehmen, dass von allen Menschen auf dem Planeten ausgerechnet sie die Richtige sein sollte, um ihnen bei ihrem Gefühlswirrwarr beizustehen? Das war ungefähr so, als würde man von einem Hund verlangen, mathematische Gleichungen zu lösen.
Oliver ergriff die Initiative und ersparte ihr die Peinlichkeit, einer Halbwüchsigen erklären zu müssen, warum sie sich um etwas kümmern sollte, was Chess selbst eigentlich nicht allzu viel bedeutete. »Mich kümmert's. Deshalb machen wir das doch alles, oder? Um dich hier rauszuholen, damit du zu mir ziehen kannst. Damit ich dir helfen kann. Mach doch jetzt nicht alles kaputt, wo wir es fast geschafft haben.«
Chess erkannte ihr Stichwort. »Niemand kriegt hier Probleme. Dafür sorge ich schon bei der Kirche. Ich kann sogar bei deinen Eltern und der Kirche die Empfehlung aussprechen, damit du bei Mr Fletcher leben darfst, okay? Also mach jetzt nichts ...«
»Arden?«
Chess war drauf und dran, verzweifelt die Hände zu ringen. Kym Pyle hatte sich zu ihrer kleinen Party gesellt und stand jetzt, den leichten blauen Wollmantel über dem Arm, in der Bürotür.
Chess bekam nicht mit, was zuerst geschah. Sie sah nur, dass Arden sich umdrehte und den Mund öffnete. Die Pistole drehte sich mit, sodass ihr starres schwarzes Auge endlich auf etwas anderes gerichtet war als auf Chess.
Oliver sprang im gleichen Augenblick vor wie Kym. Arden registrierte ihn und versuchte noch, die Waffe zurückzureißen.
Die Waffe ging los. Holzspäne flogen in Zeitlupe aus dem Türrahmen.
Kym schrie. Arden auch. Ein weiterer Schuss knallte, dann noch einer. Oliver stolperte. Arden stürzte.
Chess stand mit klingelnden Ohren alleine vor dem Schreibtisch. Sie konnte die Schreie nicht hören, sah aber die aufgerissenen Münder in den bleichen Gesichtern, in denen die einzigen Farbtupfer von dem Blut stammten, das anscheinend durch den ganzen Raum gespritzt war.
Sie brauchte noch einen Moment, bis sie kapierte, woher es gekommen war. Aus Ardens Fuß - die dumme Göre hatte sich doch tatsächlich selbst in den Fuß geballert. Und aus Fletchers Schulter und Kym Pyles Hand - die Kugel musste sie durchschlagen haben, bevor sie sich ins Holz gebohrt hatte, oder vielleicht war sie auch vom Türrahmen abgeprallt und hatte dann die Hand getroffen, so genau ließ sich das nicht sagen. Sie wusste nur, dass es an der Zeit war, zu verschwinden.
Und zwar zusammen mit Oliver Fletcher. Schussverletzung hin oder her, er musste auf jeden Fall Kemp für sie finden, und wenn sie erst abwartete, bis er aus dem Krankenhaus kam, wäre es zu spät. Durch ihren Job hatte sie zwar einen gewissen Einfluss, aber nicht genug, um zu verhindern, dass Fletcher nach einem Verhör über diese Schießerei freigelassen wurde und sich aus dem Staub machte, bevor sie bis drei zählen konnte. Und was sollte sie dann machen, ihm quer über den Kontinent hinterherfliegen?
Nein, er würde sich bei nächstbester Gelegenheit davonmachen und dann so tun, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun, ganz egal, wie viele Tränen er an ihrem Hals verdrückt hatte oder wie schuldig er sich fühlte. Es musste jetzt etwas passieren.
Merritt und drei andere Wachleute kamen im Laufschritt mit gezogener Waffe auf sie zu. Chess verstand kaum, was sie sich zuriefen, denn Kym und Arden brüllten sich an, und ihr selbst fiepten die Ohren von den Schüssen. Das Zimmer bekam eine klaustrophobische Enge, war voller Leute und Pulvergestank, Blut und Angst, während Chess nur dastand und vor sich hin glotzte. Es war beinahe interessant, mal so viel Schmerz vor sich zu haben, ohne dass ihr selbst etwas wehtat.
Es gab aber noch etwas, was sie erledigen konnte, während alle anderen beschäftigt waren. Mit der Linken riss sie den Verschluss ihrer Handtasche auf, während sie mit der Rechten Fletchers
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