Seepest
Sakkos steckte eine
kleine, unscheinbare Anstecknadel. Die wenigen sichtbaren Hautpartien
beschränkten sich auf die Hände und einen schmalen Streifen oberhalb der
Socken; der Farbton der Haut glich dem des Hemdes – beinahe weiß.
Mit versteinertem Gesicht starrte Frau Mattheis auf
den vor ihr liegenden Leichnam. Inzwischen hatte sie ihr Taschentuch sinken
lassen, vorübergehend schienen ihre Tränen versiegt. Mit bemerkenswerter
Sanftheit umfasste die sonst so resolute Franzi ihre Schultern, und in der Tat
schien Frau Mattheis dadurch ein wenig Kraft zu sammeln. Sie wirkte gewillt und
auch in der Lage, die von ihr verlangte Identifizierung vorzunehmen, so gut sie
es eben vermochte.
Eingehend betrachtete sie die Kleidung des Toten und nahm
den wenigen Schmuck unter die Lupe, bevor sie ihre Augen auf der linken Hand
des Toten ruhen ließ. Dann musste sie, vermutlich vom Ergebnis ihrer Prüfung
überwältigt, das Taschentuch wieder an die Augen führen. Sie nickte, während
sie ins Leere starrte.
»Ja, er ist es«, stammelte sie kaum hörbar.
»Sie wollen sagen, es ist zweifelsfrei Erich
Rottmann?«
»Ja. Auf alle Fälle trägt er seine Sachen, auch der
Körperbau stimmt, soweit ich das beurteilen kann. Freilich … ohne sein Gesicht
zu sehen … Aber hier, sehen Sie selbst – hier, am linken Daumen, diese kleine
Schnittwunde da: Die hat er sich bei der Pflege seiner geliebten Orchideen
zugezogen, ich hab ihm selbst das Pflaster drübergeklebt. Er züchtet nämlich
Phalaenopsis, müssen Sie wissen …«
Und als hätte sie erst jetzt die ganze Tragweite ihrer
Aussage begriffen, sank ihr Kopf an Franzis Brust, und sie wurde von heftigem
Schluchzen geschüttelt, bis sie sich plötzlich abwandte und mit schnellen
kurzen Trippelschritten aus dem Raum stürzte – so rasch, dass ihr Franzi kaum
zu folgen vermochte.
Wenig später kehrte Franzi allein wieder zurück. »Ich
habe sie in eine Taxe gesetzt, die Frau ist ja völlig durch den Wind«, erklärte
sie.
»Kann man verstehen«, stimmte Wolf nickend zu.
»Immerhin können wir jetzt davon ausgehen, dass es sich bei dem Leichnam
tatsächlich um Erich Rottmann handelt. Hmmm …«
»Was denken Sie, Leo?«
»Ich weiß nicht … für mich macht der Tod von Rottmann
keinen Sinn. Wieso sollte jemand sein Entführungsopfer umbringen? Tot ist
dieser Mann doch völlig wertlos! Warum aber dann der ganze Aufwand? Wer
riskiert für nichts und wieder nichts Kopf und Kragen? Ich komme einfach nicht
dahinter.«
Irgendetwas Entscheidendes mussten sie übersehen
haben. Wieder fiel Wolf der Gedanke ein, den er nicht hatte fassen können.
Verdammter Mist! Vielleicht hätte die Rückkehr der beiden Rottmanns ja einen
erhellenden Effekt? Sie hatten ihre Ankunft in Friedrichshafen für morgen
Nachmittag in Aussicht gestellt. Bis dahin blieb genügend Zeit, zusammen mit
dem leitenden Oberstaatsanwalt und dem Richter eine Kronzeugenregelung
festzuklopfen, die Leschek akzeptieren konnte. Spätestens dann würde sich Alex
Rottmann verdammt warm anziehen müssen.
Der Zusammenhang der Werksspionage mit Rottmanns
Entführung und dessen unerklärlichem Tod allerdings wollte sich Wolf noch immer
nicht erschließen. Wieso sollte Alex Rottmann ein Interesse daran haben, seinen
Onkel zu entführen oder gar um die Ecke zu bringen? Weit und breit ließ sich
auch nicht der Ansatz eines Motivs erkennen. Ratlos kratzte er sich am Kopf,
ohne sein Barett abzunehmen. Wie hatte Jo gesagt? »Von seinem Gesicht ist nicht
viel übrig geblieben …«
Von seinem Gesicht?
Moment mal … sollte etwa … Plötzlich wusste Wolf, was
ihn die ganze Zeit über so gequält hatte … der Gedanke war so naheliegend, dass
er sich wunderte, nicht schon viel früher darauf gekommen zu sein.
Erich Rottmann war nicht entführt worden, weil man ein
Lösegeld erpressen wollte, sondern weil er den Plänen der Entführer im Wege
stand. Dummerweise hatten ihn seine Leute inzwischen befreit, sodass die
Entführer sich gezwungen sahen, seinen Tod vorzutäuschen, um an ihren Plänen
weiterhin festhalten zu können. Das dort vorne auf dem Sektionstisch war nicht
Erich Rottmann, sondern ein anderer Mann, der Rottmann von der Statur her
glich!
Fragte sich nur: Wie sahen die Pläne aus, die Rottmann
hätte verhindern können? Ganz klar, sie mussten mit seinem Unternehmen
zusammenhängen. Folglich würden auch seine Gegner dort zu suchen sein. Und
Rottmann wusste das! Das war wohl auch der Grund, weshalb er sich noch
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