Seeteufel
keinen anderen denkbaren Zugang, schon gar nicht von auÃen. In den anderen Räumen gab es bisher nichts Auffälliges, auÃer jeder Menge Fingerabdrücke natürlich, die aber erst noch ausgewertet werden müssen. Ach ja, und einige Mikrofaserspuren, die wir am Türrahmen und an der Tischkante fanden. Das Zeug geht jetzt erst mal ins Labor.«
Wolf nickte verbissen. »Kein gewaltsames Eindringen, kaum Spuren. Sieht so aus, als hätten wir es mit Profis zu tun, nicht wahr?«
»Scheint so.«
»Und wo ist das Auge?«
»Hier.« Mit ein paar Schritten hatte der Kahlköpfige seinen Standort gewechselt und stand nun vor einem ovalen Esstisch nahe der Balkontür. Dort, mitten auf dem schmalen, kunstvoll gestickten Tischläufer, lag es, das Corpus Delicti. Wolf konnte nur zu gut verstehen, dass die Monstrosität des fast faustgroÃen, noch immer feucht glänzenden Augapfels Beklemmungen, wenn nicht gar Panik in Karin Winter hervorgerufen hatte, erst recht, wenn man bedachte, dass es durch einen unbekannten Eindringling in die verschlossene Wohnung gebracht worden war.
»Was ist es?«, fragte Wolf und beugte sich über den Tisch, um das unheimliche Teil genauer in Augenschein zu nehmen.
»Stammt eindeutig von einem Rind, fachmännisch ausgelöst«, erklärte ein Kollege des Kahlköpfigen, der sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte. »Damit es möglichst lebendig aussieht, haben die Täter sich eines einfachen Tricks bedient: Sie haben die Oberfläche mit einem hochglänzenden Klarlack behandelt. Das verhindert, dass sich organisches Material unter Sauerstoffeinwirkung zersetzt. Wenn ihr mich fragt: Das Ding dürfte in einem Monat noch genauso lecker aussehen.«
Wolf sah den Kollegen skeptisch an; für diese Art von Humor hatte er wenig übrig. Andererseits: Wer sein Leben lang in den Hinterlassenschaften fremder Leute wühlte, entwickelte wohl zwangsläufig eine gehörige Portion Zynismus â schon aus Selbstschutz. Seiâs drum, er hatte im Augenblick Wichtigeres zu tun, als sich über solche Bagatellen aufzuregen.
Zum Beispiel musste er versuchen, sich aus dem Gehörten ein möglichst genaues Bild von den Tätern zu machen. Ganz bewusst benutzte er den Plural, denn seinem Gefühl nach stand auÃer Frage, dass sie es mit mehreren Tätern zu tun haben mussten. Nachdenklich sah er durch die Balkontür auf den See hinab. Sein Blick fiel am jenseitigen Ufer auf die Ãrtchen Dingelsdorf und Wallhausen, die im warmen Licht der spätherbstlichen Abendsonne wie aus der Hand eines Riesen hingestreut lagen. Das Bild war so richtig geeignet, die Gräuel, mit denen er sich tagein, tagaus beschäftigen musste, ein wenig in den Hintergrund zu drängen.
Die Täter, das stand für ihn fest, waren keine gewöhnlichen Kriminellen. Sie versuchten auf nicht besonders subtile Weise, ihre Opfer zu steuern, ihr Verhalten zu beeinflussen. Sie bestraften jeden, der ihre Pläne gefährdete. Wenn es sein musste, sogar mit dem Tod. Otto und inzwischen vielleicht auch Göbbels waren höchstwahrscheinlich unliebsame Zeugen, die mundtot gemacht werden mussten. Galt das auch für Havanna und Einstein? Oder spielte vielleicht doch das Vermögen eine Rolle, das jene betagte Witwe den beiden Pennern überschrieben hatte â und warum gerade ihnen? Auch Karin Winter schien hochgradig gefährdet. Sie hatte sich für Dinge interessiert, von denen sie besser die Finger gelassen hätte, das sollte das Auge auf ihrem Esstisch ihr mitteilen.
Plötzlich zog Wolf die Brauen hoch. Wenn das stimmte, wenn ihre Recherchen den Tätern auf die FüÃe traten ⦠lieÃe sich dann daraus vielleicht ein Motiv ableiten? Oder wenigstens ein Hinweis, um was es im Kern bei der Geschichte überhaupt ging? Doch so sehr er auch die wenigen bekannten Fakten miteinander verknüpfte, es wollte ihm nichts Gescheites einfallen.
Sie hatten noch immer viel zu wenig in der Hand â und schon gar keine Fakten, die zu einem handfesten Motiv und von da zu den Tätern führten. So perfide es klang: Sie mussten darauf hoffen, dass diese Leute sich aus der Deckung wagten und Fehler begingen â erst dann hätten sie eine Chance, weiterzukommen.
Ein penetrantes Läuten an der Wohnungstür unterbrach Wolfs Gedanken. Vögelein war von seiner Befragung zurück. Er holte tief Luft und fuchtelte
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