Seeteufel
Rinderauge zu fragen, war demnach zumindest ungewöhnlich. Wer es dennoch tat, fiel zwangsläufig auf. Genau das aber mussten die Täter unter allen Umständen vermeiden. Daraus schloss Jo zweierlei. Erstens: Ein Rinderauge war nur auf illegale Weise zu besorgen. Zweitens: Je weiter weg von Ãberlingen das geschah, desto sicherer war man im Falle einer Entdeckung.
Jo warf einen Blick auf die Liste: Am weitesten von Ãberlingen entfernt lagen die Schlachthöfe in Friedrichshafen und Markdorf sowie die fleischverarbeitende Fabrik in Singen.
Demnach würde sie in Friedrichshafen beginnen.
Der nächste Dämpfer lieà nicht lange auf sich warten: Bedauernd teilte ihr der Kollege von der Fahrbereitschaft mit, im Augenblick stünde kein Dienstfahrzeug zur Verfügung. Verdammt und zugenäht â ausgerechnet heute, wo ihr eigener Wagen in der Werkstatt war. Was sollte sie tun? Die Nachforschungen verschieben? Einen Kollegen um sein Auto bitten? Oder gar eine Taxe nehmen? Nein, da würde sie bloà auf den Kosten sitzen bleiben.
Andererseits: Wenn sie an ihre letzte Taxifahrt dachte ⦠der Fahrer hatte sich bei der Verfolgung des Penners überaus professionell verhalten. Vielleicht würde er ihr einen Sonderpreis machen? Der Kerl war charmant gewesen, auÃerdem sah er verdammt gut aus ⦠obwohl das natürlich nicht die geringste Rolle spielte! Jo seufzte. Versuchen konnte sie es ja zumindest, zumal es im Augenblick ihre einzige Chance war, diese Sache voranzutreiben. Wo hatte sie nur die Quittung? Ah, hier! Vermutlich war er eh unterwegs, oder er arbeitete nur nachts, oder â¦
»Schürmann.«
Im ersten Moment brachte Jo keinen Ton heraus. »Hallo, Herr Schürmann«, krächzte sie wie ein schüchterner Teenager. »Louredo, Kripo Ãberlingen. Sie erinnern sich vielleicht, wir haben vor zwei Tagen zusammen einen Golf verfolgt.«
»Oh ja, war mir ein Vergnügen. Was liegt heute an, Lady?«
Jo fand augenblicklich zu ihrer Normalform zurück. Dieses blöde Lady war ihr neulich schon aufgestoÃen, mit der Zeit würde es ihr gehörig auf den Keks gehen. Mit kurzen Worten schilderte sie ihm ihr Vorhaben. Wenige Minuten später stieg sie unweit der Polizeidirektion in seinen Wagen und nannte als Fahrtziel den Schlachthof Friedrichshafen.
Zu Beginn der Fahrt war sie seltsam gehemmt. Während Thomas Schürmann unentwegt plauderte, gab sie nichtssagende Antworten oder beschränkte sich aufs Zuhören. Das änderte sich erst, als sie Friedrichshafen wieder verlieÃen und die zweite Station, die fleischverarbeitende Fabrik in Markdorf, ansteuerten.
Die Mitarbeiter im Schlachthof der Zeppelinstadt hatten sich kooperativ gezeigt, aber dennoch war das Gespräch ein Flop gewesen: Weder war dort jemals ein Rinderauge verlangt worden, noch hatte es UnregelmäÃigkeiten oder Auffälligkeiten im Zusammenhang mit Schlachtabfällen gegeben. Auf die Frage, ob vielleicht durch Mitarbeiter oder Betriebsfremde etwas entwendet werden könnte, erntete Jo nur ein mitleidiges Lächeln; die lückenlose Ãberwachung der Produktionsabläufe lieÃe das nicht zu. Und dann noch ein Rinderauge ⦠pff. Unverrichteter Dinge war sie wieder in Tom Schürmanns Auto gestiegen.
Das Markdorfer Ergebnis war wenig später so gut wie identisch; auf jede ihrer Fragen erntete Jo nur ein Achselzucken. Merkwürdigerweise schien die Enttäuschung jedoch ihre Zunge zu lösen. Durch geschicktes Fragen hatte sie während der Weiterfahrt herausbekommen, dass Thomas Schürmann, der ihr sogleich angeboten hatte, ihn Tom zu nennen, in Konstanz Informatik studierte und sich sein Studium mit Taxifahren verdiente.
Dank ihrer angeregten Unterhaltung verging die Zeit wie im Flug, sodass Jo kaum mitbekam, wie der Morgennebel allmählich der von den Wetterfröschen des SWR angekündigten spätherbstlichen Hochdruckwetterlage wich und die Landschaft rings um den See in anmutigen Herbstfarben erstrahlte. Fast bedauerte sie es, als sie in Singen eintrafen. Auf dem Firmenparkplatz brachte Schürmann sein Fahrzeug zum Stehen und wies auf die vor ihnen liegenden Gebäude. »Sie wollten zur Firma SFV. Voilà , Lady, wir sind am Ziel.«
Sie brauchte ein, zwei Sekunden, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er hatte recht, auf der Fassade stand es braun auf weiÃ: » SFV Süddeutsche
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