Segeln im Sonnenwind
Schuldgefühl. Ich ging Richtung Praxis und blieb nur einmal kurz stehen, um Lucilles rotblondes Haar zu zausen und ihr den Hintern zu tätscheln. Lucy war damals drei, glaube ich – ja, sie war '94 auf die Welt gekommen, in dem Jahr, in dem Vater und ich nach Chicago gefahren waren. Sie war ein stets fröhliches kleines Püppchen. Ich beschloß, daß ich genau so ein Töchterchen haben wollte – allerdings noch nicht im gleichen Jahr. Aber bald. Ich kam mir sehr weiblich vor.
Ich betrat die Praxis genau in dem Moment, in dem Mrs. Altschuler gehen wollte. Ich grüßte sie höflich; sie sah mich an und antwortete: »Audrey, du warst wieder ohne Sonnenhut draußen. Weißt du es denn wirklich nicht besser?«
Ich dankte ihr für ihr Interesse an meinem Wohlbefinden und ging ins Sprechzimmer. Vater zufolge litt Mrs. Altschuler nur an Verstopfung und mangelnder Bewegung, aber sie kam trotzdem wenigstens zweimal pro Monat und hatte seit dem Ersten des Jahres nicht einen einzigen Penny bezahlt. Vater zeichnete sich an und für sich durch ein sehr bestimmtes Auftreten aus, aber er war trotzdem nicht gut darin, Geld einzutreiben, das andere ihm schuldeten.
Er trug gerade ihren Besuch in seinem Buch ein und blickte dann auf. »Ich schlage deinen Läufer, junge Dame.«
»Sicher möchtest du es dir nicht noch mal überlegen, oder?«
»Nein. Vielleicht mache ich einen Fehler, aber ich glaube eigentlich nicht. Wieso? Denkst du, daß es falsch ist?«
»Ja, Sir. Matt in vier Zügen.«
»Wie bitte?« Vater stand auf und trat ans Schachbrett. »Zeig es mir.«
»Sollten wir es nicht einfach ausspielen? Ich könnte mich ja auch irren.«
»Grumpf! Du bist noch mein Tod, Mädchen.« Er studierte das Brett und kehrte zum Schreibtisch zurück. »Das wird dich interessieren. Mit der Morgenpost kam ein Brief von Mr. Clemens…«
»O Mann!«
Ich erinnere mich noch besonders gut an einen Absatz:
»Ich bin mit Ihnen und dem Barden einer Meinung, Sir; hängen wir sie! Es beseitigt vielleicht nicht alle Mängel dieses Landes, wenn seine Anwälte gehängt werden, aber es würde viel Spaß machen und niemandem schaden.
Ich habe einmal festgestellt, daß der Kongreß die einzige definitiv kriminelle Klasse dieses Landes darstellt. Es kann kein bloßer Zufall sein, daß er sich zu 97 Prozent aus Anwälten zusammensetzt.«
Mr. Clemens ergänzte noch, daß seine literarische Agentur im kommenden Winter einen Termin für ihn in Kansas City angesetzt hatte. »Ich erinnere mich, daß wir uns vor vier Jahren in Chicago um eine Woche verpaßt haben. Wäre es möglich, daß Sie am zehnten Januar in K. C. sind?«
»O Vater! Könnten wir nicht hinfahren?«
»Du hast dann Schule.«
»Vater, du weißt, daß ich alles wieder aufgeholt habe, was ich damals durch die Fahrt nach Chicago versäumt habe. Du weißt, daß ich die Beste unter den Mädchen in meiner Klasse bin… und auch die beste einschließlich der Jungen sein könnte, wenn du mich nicht ermahnt hättest, daß es unklug wäre, allzu gescheit zu wirken. Was dir aber vielleicht noch nicht aufgefallen ist, ist die Tatsache, daß ich sogar so gute Noten habe, daß ich…«
»… letzte Woche zusammen mit Toms Klasse den Abschluß hätte machen können. Es ist mir aufgefallen. Nun, wir werden sehen. Hast du in Butler bekommen, was du wolltest?«
»Ich habe bekommen, was ich wollte, aber nicht in Butler.«
»Wie bitte?«
»Ich hab's gemacht, Vater! Ich bin keine Jungfrau mehr.«
Seine Augenbrauen hoben sich. »Jetzt hast du mich doch tatsächlich überrascht.«
»Echt, Vater?« (Ich wollte nicht, daß er wütend auf mich war… und eigentlich war ich immer davon ausgegangen, daß er schon vor langer Zeit angedeutet hätte, er würde es auch nicht sein.)
»Echt, weil ich geglaubt habe, du hättest dein Ziel schon in den letzten Weihnachtsferien erreicht. Seit sechs Monaten warte ich nun und hoffe, daß du dich endlich entschließt, es mir anzuvertrauen.«
»Sir, ich habe nie daran gedacht, es vor dir zu verheimlichen. Ich bin auf dich angewiesen.«
»Danke. Mmm, Maureen, wo du jetzt frisch defloriert bist, sollte man dich untersuchen. Soll ich Mutter rufen?«
»Oh! Muß sie es denn erfahren?«
»Letzten Endes schon, aber du brauchst dich nicht von ihr untersuchen zu lassen, wenn es dir was ausmacht…«
»Das tut es!«
»In diesem Fall bringe ich dich hinüber zu Dr. Chadwick.«
»Vater, wieso muß ich unbedingt zu Dr. Chadwick? Es war ein ganz natürlicher Vorfall, und er hat
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