Seherin von Kell
falls es zu einem Bündnis zwischen Tol Honeth und Mal Zeth kommen sollte. Auf diese Weise verteidigt jeder mehr oder weniger sein eigenes Territorium, und die Chereker halten die Malloreaner vom Kontinent fern, so kann alles zu jedermanns Zufriedenheit geregelt werden.«
»Es bedeutet jedoch auch eine völlige Isolation für Cthol Murgos«, wies Urgit auf den einen Punkt hin, den Javelin gehofft hatte, übergehen zu können. »Ich schwäche mein Reich bis zur Erschöpfung, um die Kastanien für euch aus dem Feuer zu holen, und dann brauchen die Alorner, Tolnedrer, Arendier und Sendarer nur noch nach Belieben einzumarschieren, um Schluß mit der angarakanischen Präsenz auf dem Westkontinent zu machen.«
»Ihr habt die Nadraker und Thulls als Verbündete, Eure Majestät.«
»Ich bin gern zu einem Tausch bereit«, sagte Urgit trocken. »Die Thulls und Nadraker gegen die Arendier und Rivaner.«
»Ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich mich in dieser Sache mit meiner Regierung in Verbindung setze, Eure Majestät. Ich habe meine Vollmacht bereits überschritten. Ich benötige weitere Anweisungen von Boktor.«
»Meine Empfehlung an Porenn«, sagte Urgit, »und versichert ihr, daß ich genau wie sie einem gemeinsamen Verwandten alles Gute wünsche.«
Javelin war viel weniger selbstbewußt, als er ging.
Das Kind der Dunkelheit, eine Frau, hatte an diesem Morgen sämtliche Spiegel in ihren Gemächern im Grolimtempel von Balasa zerschmettert. Es hatte jetzt begonnen, auch auf ihr Gesicht über-zugreifen. Noch fast unmerklich hatte sie die wirbelnden Lichtpunkte unter der Haut ihrer Wangen und der Stirn gesehen, und dann hatte sie den Spiegel zerbrochen, der sie ihr gezeigt hatte – und alle anderen Spiegel ebenfalls. Als sie damit fertig war, starrte sie entsetzt auf die Schnittwunde in ihrer Handfläche. Die Lichtpünktchen waren sogar in ihrem Blut. Erbittert erinnerte sie sich an die wilde Freude, als sie die prophetischen Worte zum erstenmal gelesen hatte: »Sehet: das Kind der Finsternis wird über alle anderen erhoben und vom Licht der Sterne erleuchtet werden.« Aber dieses Licht der Sterne war kein Glorienschein, kein Strahlenkranz. Das Licht war eine schleichende Krankheit, die sich Zoll um Zoll in ihr ausbreitete.
Doch waren es nicht nur die wirbelnden Lichtpunkte, die angefangen hatten, sich ihrer zu bemächtigen. Ihre Gedanken, ihre Erinnerungen, ja, sogar ihre Träume waren immer weniger ihre eigenen. So oft erwachte sie schreiend aus einem Traum, der ständig wiederkehrte. Sie schien körperlos und gleichgültig in einer unbeschreiblichen Leere zu hängen und völlig unbeteiligt
zuzusehen, wie ein riesiger Stern sich auf seiner Bahn drehte und leicht schwankte, wie er anschwoll und immer röter glühte, während er erbebend seiner unvermeidlichen Auslöschung
entgegenschwankte. Dieses unregelmäßige Schwanken des
exzentrischen Sterns war nicht wirklich beunruhigend, bis es zusehends stärker wurde. Da verspürte die in der Leere schwebende körper- und geschlechtslose Wesenheit zunächst einen Hauch Interesse, dann wachsenden Schrecken. Das war falsch! So war es nicht beabsichtigt! Und schließlich passierte es. Der rote Riese explodierte an einer Stelle, wo es nicht zur Explosion hätte kommen dürfen, und weil dies die verkehrte Stelle war, wurden auch andere Sterne davon betroffen. Eine ungeheure, anschwellende Kugel brennender Energie griff nach außen, verleibte sich Sonne um Sonne ein, bis eine ganze Galax
Die
is verschlungen war.
Wesenheit in dieser Leere verspürte einen entsetzlichen Ruck in sich, als die Galaxis explodierte, und einen Augenblick lang schien sie an mehr als nur einem Ort zu existieren. Und dann war sie nicht mehr eins. »Das darf nicht sein!« sagte die Wesenheit mit lautloser Stimme.
»Wahrlich«, entgegnete eine andere lautlose Stimme.
Und das war das Entsetzen, das Zandramas Nacht für Nacht in ihrem Bett aufschreckte und sie schreiend erwachen ließ – dieses Ge-fühl einer anderen Gegenwart, wo sich zuvor stets die vollkommene hehre Einsamkeit ewiger Einheit befunden hatte.
Das Kind der Finsternis versuchte, diese Gedanken – Erinnerungen, vielleicht – zu verdrängen. Jemand klopfte an die Tür ihres Gemachs, und sie zog rasch die Kapuze ihres Grolimgewands über den Kopf, um ihr Gesicht zu verbergen. »Ja?« rief sie barsch.
Die Tür öffnete sich, und der Erzpriester des Tempels trat ein.
»Naradas ist abgereist, heilige Seherin«, meldete er. »Ihr
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